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Offen für alle. Hamburg aus zwei Perspektiven

Leonardo schreibt jeden Monat eine Kolumne über die lateinamerikanische Community in Deutschland. Heute schreibt er über sein lateinamerikanisches Bild, das er von Hamburg hat und vergleicht es mit dem der Pädagogin Andreia Freitas.

Hamburg an der Alster

In den fast dreißig Jahren, die ich in Hamburg lebe, sind unendliche Aspekte dieser Stadt ein Teil meiner Persönlichkeit geworden, manche sind in Fleisch und Blut übergegangen. Noch erinnere ich mich, ganz am Anfang, wie die schiere Anzahl von Weltsprachen auf den Straßen mich beeindruckt hat. Auch wenn diese Tatsache an sich nichts Außergewöhnliches für eine der wichtigsten Hafenstädte der Welt sein sollte. Es war aber sehr neu für mich. Mit den Jahren habe ich jedoch nicht mehr richtig hingehört oder gar darauf geachtet.

Eine Stadt der Leidenschaften

Die frische Sicht der Dinge von Andreia Freitas hat mich an meinen Anfang zurückgebracht. Sie ist 31 Jahre alt, ist Pädagogin und lebt seit 5 Jahren in der Hansestadt. Sie hat einen besonderen Blick für Hamburg und erlebt den hiesigen Alltag außerhalb ihrer „Komfortzone“. In einem Wort beschreibt sie diese Stadt als „multifacettiert“. Sie berichtet: „meine Erwartungen waren anfänglich geprägt durch das Bild Deutschlands in Portugal. Eine kalte, geschäftige Stadt, wo die Menschen recht lang arbeiten und die bekannte deutsche Pünktlichkeit eine heilige Aura genießt. Vielleicht bekräftigt die große Anzahl von öffentlichen Uhren diesen Eindruck. Aber Hamburg ist viel mehr als nur das und zeigt verschiedene Gesichter. Sie ist recht entspannt und hat eine reiche Historie. Sie bietet eine gute Existenz für ihre Bürger, egal aus welcher Kultur, Identität oder Religion. Sie ist eine Stadt der Leidenschaften, für die Menschen und ihre kulturellen Kreise, für das Essen aus aller Welt und vor allem, für die Natur und die Landschaften“.

Kulinarische Monotonie

Ich musste innerlich schmunzeln. An meinem Anfang habe ich diese Stadt ganz anders erlebt. Sie war nicht offen, ich meinte, das Leben hier findet hinter Türen und Mauern statt. Es war ein langer Weg, bis die Migration von Menschen aus verschiedenen Kontinenten etwas mehr Straßenleben an die Elbe gebracht haben. Die ausländische Gastronomie fand man meistens nur in Vierteln, die zum Teil gemieden wurden, zum Beispiel in Teilen von Altona, der Sternschanze und dem Karo-Viertel. Dort lebten die Ausländer, vorwiegend türkische Bürger aus der zweiten oder gar dritten Generation. Sehr viele meiner damaligen deutschen Bekannten zeigten einen besonderen Geschmack für ein Fertigprodukt namens „Miracoli“, eine langweilige Pampe, die einen Italiener in die Flucht jagen würde.

Ein grauer Wall

Die sogenannte religiöse Freiheit beschränkte sich auf wenige Ecken der Stadt, die vorwiegend von Muslimen bewohnt wurden, wie Wilhelmsburg oder die Veddel. Und auch wenn Hamburg eine der grünsten Städte ist, die ich jemals erlebt habe, hat sich auch hier einiges zum negativ hin entwickelt. Wie habe ich mich früher gefreut, von der Alten Elbstraße aus, diesen wunderschönen Fluss ohne visuelle Hindernisse genießen zu können. Auch das ist leider seit einigen Jahren nicht mehr möglich. Eine Reihe von Wohn – und Bürogebäude, zum Teil recht dich gebaut, bilden einen grauen Wall, den unseren Blick nicht überwinden kann. Die zum Teil hochgepriesene Architektur wiederholt sich in einer langweiligen Reihe von Häusern, die fast alle an Schiffsdecks erinnern. Ich weiß, jede Stadt geht durch solche Änderungen und muss sich weiterentwickeln. Aber in Hamburg geschah etwas, dass ich nur aus Berlin kennen, eine Stadt architektonisch zu pasteurisieren.

Organisation ist keine Auszeichnung

Andreia fährt fort: „die Organisation hat mich in Hamburg richtig beeindruckt. Das Transportwesen, die Abwesenheit von streunenden Tieren auf den Straßen und das sehr effiziente Gesundheitswesen sind Beispiele einer Stadt, wo an die Lebensqualität ihrer Bürger gedacht wird“. Fast alles richtig, denke ich. Aber die Organisation ist keine Auszeichnung für diese Stadt und noch nicht einmal für Deutschland. Sie ist ein Merkmal aller nordischen Länder, sie war eine Notwendigkeit, um das Leben erst zu ermöglichen. Es reicht darüber nachzudenken, wie der Alltag in Deutschland oder Schweden oder Finnland vor 500 oder gar 1.000 Jahren ausgesehen haben muss. Die Menschen waren von der Natur aus gezwungen, die verschiedenen Bereiche des Lebens zu optimieren, um zu überleben.

Ausländer prägten multikulturelles Stadtbild

Sie meint auch, „dass die Hamburger offen für die Unterschiede sind, die neuen Generationen sind multikulturell und haben breite Ansichten. Sie zeigen kein großes Interesse für dein Aussehen und möchten eher deine Werte und Lebenserfahrungen kennenlernen. Sie haben Versicherungen für alles, Lebens-, Auto- und Gesundheitsversicherung“. Es stimmt, diese Gesellschaft hat sich sehr verändert und die neuen Generationen leben schon seit vielen Jahren mit Menschen aus aller Welt. Wir, die Ausländer, sind ein großer Teil dieser Entwicklung und nicht nur die Besucher, sondern die, die sich hier niedergelassen haben, ob sie es wollten oder nicht. Und gerade diejenigen, die noch vor nicht einmal 10 Jahren nach Hamburg und anderswo kommen mussten, werden diese und andere Gesellschaften prägen und deren Einsichten verändern.

Versicherungen geben Sicherheit

Mich würde es jedoch interessieren, ob es in Portugal keine Kranken- oder Lebensversicherungen gibt. Es wäre mir unvorstellbar, auch wenn ich aus einem lateinischen Land komme, wo Millionen Bürger gar keine Krankenversicherung haben. Entweder aus finanziellen Gründen oder weil sie es nicht für nötig erachten. Sie sind deshalb komplett von dem maroden staatlichen Gesundheitswesen abhängig. Es ist leicht auszumalen, was sich gerade in der jetzigen Zeit dort abspielt. Möchte Andreira damit ausdrücken, dass sie diese Absicherungen im Leben für übertrieben hält? Oder findet sie die Alternative eine bessere Option? Am Anfang neigen wir dazu, eine neue Gesellschaft mit dem vertrauten Blick aus unseren Heimatländern einzuschätzen. Das gibt uns Sicherheit. Aber wir sollten unserem lateinischen Blick nicht allzu sehr vertrauen, auch wenn er uns so lieb und einfach ist. Trotz allen, zum Teil negativen Entwicklungen, bleibt die Stadt an der Elbe sehr liebens- und lebenswert. Einfach für alle.

Ein Teil des Textes stammt aus einem Interview des Blogs „Alma de viajante“, geführt von Filipe Morato Gomes und erschienen am 22.03.2020.

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Kategorie & Format
Autorengruppe
Leonardo De Araujo
Leonardo De Araujo, geboren in Rio de Janeiro, Brasilien lebt seit etwas mehr als 30 Jahren in Deutschland, vorwiegend in Hamburg. Nach einigen Berufsjahren in Werbeagenturen hat er 35 Jahre in der Fernsehproduktion gearbeitet. Nebenbei hat er sich auch als Drehbuchautor und Fotograf beschäftigt – und für das Flüchtling-Magazin, heute kohero, geschrieben.

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