Der Blick zum abendlichen Himmel über dem Hafen führt vorbei an Weihnachtsdeko und Rettungsring: Hoffnungsleuchten und Nothelfer. Erinnerungen an das Schöne wie Verletzliche in diesem Jahr, an erfahrene Bedrohung wie Barmherzigkeit – hier und anderswo, auf der Flucht, in Zeiten der Pandemie…
Barmherzigkeit? Zum alltäglichen Sprachgebrauch gehört das Wort eher nicht. Mag sein, dass es für einige einen etwas altertümlichen Klang hat. Und manche, die mit der deutschen Sprache noch nicht so vertraut sind, lesen es hier vielleicht zum ersten Mal. Aber von der leisen Kraft der Barmherzigkeit erzählt, darauf gehofft und danach gehandelt – das haben vermutlich sehr viele schon. Denn Menschen verbinden einen reichen Wort- und Erfahrungsschatz mit dem, was Barmherzigkeit bedeutet – überall und in allen Sprachen der Welt.
Barmherzigkeit – ein Weihnachtswort?
Barmherzigkeit gehört zu den zentralen Begriffen der Sozialethik und der Religionen. Im Islam, Judentum, Christentum und bei den Bahai wird Barmherzigkeit zugleich als eine herausragende Eigenschaft Gottes angesehen. Und als solche taucht sie in den heiligen Schriften an vielen Stellen auf – besonders auch im Kontext der Überlieferungen rund um die Geburt von Jesus von Nazareth. Barmherzigkeit – ein Weihnachtswort also für das Jahr 2020? Ein Jahreswechselwort in einer Zeit, in der das Leben durch die Pandemie eine weltweite Erschütterung erfahren hat?
Danach haben wir Menschen in und aus verschiedenen Teilen der Welt gefragt. Für das kohero Magazin waren sie bereit, ihre persönlichen Erfahrungen mit Barmherzigkeit in verschiedenen Lebenssituationen und Regionen der Welt zu beschreiben – hier nun (z.T. ins Deutsche übersetzt) nachzulesen als zweiteilige Sammlung von Geschichten und Gedanken für die Weihnachtstage 2020.
Barmherzigkeit ist Warmherzigkeit
Yilmaz Holtz-Ersahin ist einer von ihnen. 1972 in Hinis bei Erzurum (Ost-Türkei) geboren, ist er aufgewachsen in einer kurdisch-armenisch-türkischen Kultur. Seit 1991 lebt er in Deutschland. Auf die Frage nach seinen persönlichen Erfahrungen mit Barmherzigkeit, antwortet er mit einer Erinnerung an das, was er als Kind in seinem Heimatdorf erlebt hat:
Barmherzigkeit ist Warmherzigkeit und hat in meiner alten Kultur sehr viel mit Wärme und Menschlichkeit untereinander wie auch gegenüber der Natur und allen Lebewesen zu tun. Als ich Kind war, hatten wir nicht so viel, also keine großartigen Produkte, die industriell hergestellt wurden. Wir lebten ohne Strom in den von Kerzenlichtern beleuchteten Flachdachhäusern mit kleinen Fenstern in dem kleinen Wohnzimmer mit Blick auf die hohen schneebedeckten Berge. Wir sehnten uns immer nach der Wärme der Menschen in diesen kalten kargen Landschaften. Denn wir wussten nicht viel über die Vielfalt der Waren, die in Industriegesellschaften glücklich machen. Was uns glücklich machte, war die menschliche Wärme.
Barmherzigkeit ist eine zärtliche Berührung aus Liebe zu den Kindern, den älteren oder schwachen Menschen. Die Warmherzigkeit war in den Worten zu spüren. Die Geschichten, Märchen, Mythen oder die Überlieferungen, die wir von unseren Großeltern oder Geschichtenerzählern hörten, waren für uns Botschaften der Barmherzigkeit.
Zwischen dem Guten und dem Bösen unterscheiden
Natürlich waren nicht alle Märchen oder Erzählungen voller Barmherzigkeit. Es gab darin auch das Böse oder Menschen mit schlechten Absichten. Unsere Aufgabe war es, zwischen dem Guten und dem Bösen zu unterscheiden. Für uns gehörte zur Barmherzlichkeit das Wissen um diesen Dualismus und das Erkennen des Guten.
In dem Dorf, in dem ich aufwuchs, haben sich die Dorfbewohner der 50 Häuser in den langen Wintermonaten untereinander versorgt. Wenn einer kein Zucker hatte und der andere viel Tee, haben sie die Sachen untereinander getauscht. Man schämte sich nicht, den Nachbarn zu fragen oder zu sagen: Ich habe nichts zu essen oder keine Kartoffeln. Mir fehlen bestimmte Lebensmittel oder bestimmte Gewürze, Zutaten – was auch immer. Die Dorfbewohner tauschten ihre Sachen, bis der Schnee schmolz und die ersten Blumen sich aus der Erde emporhoben. Es war das Tauschen der Dinge, das Tauschen der Ideen und Gespräche, was diese Menschen glücklich machte.
Es herrschte in unserem Dorf der Glaube, dass Hasen beziehungsweise Kaninchen heilige Tiere seien, die man nicht jagen oder schlagen, nicht schlachten und essen durfte. Wenn sie sich aus Angst vor den Jägern mit anderem Glauben aus anderen Dörfern von den Bergen retten wollten, sind sie oft in unser Dorf gekommen. Unser Dorf war Zufluchtsort für alle Hasen in dieser Natur. Und wir haben sie gerettet und geschützt. Das war für uns zum Beispiel auch eine Barmherzigkeit der Natur gegenüber. Natürlich durften diese Jäger nicht in unser Dorf reinkommen, um sie zu jagen. Sie genossen eine Immunität und hatten Schutz.
Über die eigene Bequemlichkeit hinausschauen
An ein Erlebnis, das noch nicht so lange zurück liegt, erinnert sich Ellen Lindsey Awuku, eine junge Frau, die in Ghana lebt. Sie erzählt:
Barmherzigkeit bedeutet für mich, über unsere eigenen Bedürfnisse, Leiden oder Bequemlichkeiten hinauszuschauen und die Bedürfnisse anderer zu erkennen und Maßnahmen zu ergreifen, um ein Lächeln auf ihre Gesichter und Wärme in ihre Herzen zu zaubern. Dabei denke ich besonders an eine persönliche Erfahrung mit Barmherzigkeit in diesem Jahr:
Es gab einen Vorfall Anfang dieses Jahres, ungefähr zur gleichen Zeit, als die Pandemie begann. Ich war in meinem Zimmer, als ich von draußen viel Geschwätz hörte. Also ging ich hin, um einen Blick darauf zu werfen. Draußen sah ich einen Mann, der furchtbar krank aussah und möglicherweise schon seit vielen Tagen hungerte. Er brauchte offensichtlich Hilfe. Aber die Leute kümmerte das wenig. Manche reagierten abfällig, da er als Alkoholiker bekannt war. Ich fragte, warum alle nur dastanden, während der Mann hier dem Tode nahe schien. Die meisten antworteten, dass er es so verdient hätte. Da dachte ich: Das kann nicht sein. Menschen, die in Not sind, müssen unterstützt werden, egal welche Entscheidungen sie getroffen haben.
Nähe schenken am Ende eines Lebens
Ich ging zu einem Mann, der Erste Hilfe angeboten hatte, während ich selbst Sicherheitsvorkehrungen traf und holte ihm dann etwas zu essen. Ich rief nach dem Krankenwagen, aber der verzögerte sich. Also rief ich die Polizei an. Aber sie sagten nur, sie sollten ihn ins Krankenhaus bringen, da seine Familie nicht bekannt war. Kein Taxi war bereit, ihn aufzunehmen, weil er so verwahrlost aussah.
Also suchte ich ein paar Klamotten für ihn zusammen und rief weiter den Krankenwagen. Es war schon ziemlich spät. Also suchte ich für ihn einen Platz zum Schlafen und deckte ihn zu, damit er sich die ganze Nacht über ein wenig warm fühlte. Oft kam ich, um zu sehen, ob es ihm gut ging. Und ich rief weiter nach dem Krankenwagen. Glücklicherweise kam der Krankenwagen dann endlich am Morgen. Leider starb der Mann kurz nach Erreichen des Krankenhauses.
Es war herzzerreißend, das erleben zu müssen. Denn morgens noch schien es ihm etwas besser zu gehen. Ich denke oft daran, wie die Geschichte ausgegangen wäre, wenn alle um ihn herum ein wenig mitfühlend gewesen wären und sich rechtzeitig um ihn gekümmert hätten. Aber ich bin auch froh, dass ich ihm etwas Hilfe anbieten und bei ihm sein konnte am Ende seines Lebens. Auch wenn es nicht gelungen ist, sein Leben zu retten.
Wir brauchen einen neuen Kompass
Einen weiteren Aspekt zum Thema „Barmherzigkeit“ bringt Daniela Skokovic aus Serbien mit ein. Ihr ist es wichtig, dass Barmherzigkeit sich nicht allein auf eine mitfühlende Haltung anderen Menschen gegenüber beschränkt, sondern ebenso Verantwortung und Achtsamkeit für die Natur mit umfasst. Sie schreibt:
In diesen Tagen, in denen wir in neuer Weise unter den Bedingungen eines “gefahrvollen” Lebens und der Angst vor unsichtbaren Feinden leben, müssen wir über die wichtigsten Prinzipien unseres Lebensraums nachdenken. Das Zusammenleben in unserer Zeit ist gewissermaßen von Barmherzigkeit geprägt – durch Mitgefühl für andere Menschen, aber mehr noch für die Natur: Liebe üben, sich achtsam und respektvoll um alle verlassenen Lebewesen kümmern, sauberes Wasser, frische Luft – das sind die Ziele für ein normales zukünftiges Leben. Die Natur erinnert uns ständig daran, mitfühlender damit umzugehen! Wir sind nicht allein auf diesem Planeten! Wir brauchen einen neuen Kompass, ein “an Barmherzigkeit orientiertes Herz” für die richtige Richtung auf unserem Lebensweg.
Mit weiteren Geschichten und Gedanken aus Afghanistan, Italien und Afrika folgt morgen, am 25. 12., der zweite Teil dieses Weihnachts-Beitrags zum Thema „Barmherzigkeit“.