„Ein paar Monate vor der Geburt haben die Ärzte festgestellt, dass etwas nicht stimmte. Das zu hören, war für mich erstmal ein Schock“, erinnert sich Lucy Wanjiku an 2009. „Als meine Tochter dann im Frühjahr 2010 auf die Welt kam, war das der Moment, in dem mein Leben richtig, richtig schwer geworden ist.“ Doch Lucy Wanjiku ist keine Frau, die schnell aufgibt.
Eine Pflanze und eine Kerze – für Lucy Wanjiku, Gründerin von Tumaini e.V. sind es Symbole für Mut, Kraft und Hoffnung. Seit 2017 schenkt sie diese an Kinder mit Behinderungen und Migrationshintergrund sowie deren Eltern.
Ich bin Lucy!
Lucy stammt aus Nairobi und ist seit 2003 in Hamburg zu Hause. In der afrikanischen Community war sie sehr aktiv. „2004 habe ich meinen Sohn auf die Welt gebracht. Ab da war ich auch als Mutter unterwegs.“ Ihre Hilfe bot sie jedem an, der sie brauchte. Vor allem Frauen wendeten sich an Lucy. „Ich habe sie begleitet, obwohl ich kein Deutsch konnte“, lacht sie in die Kamera. Sie gründete zusammen mit anderen Frauen eine kleine Selbsthilfegruppe, lernte Deutsch, hatte einen guten Job und war zufrieden. „Bis ich mich in einer sehr schwierigen Situation wiederfand“, spricht sie plötzlich leise weiter. Im Februar 2010 kam ihre Tochter Rochelle mit mehrfachen Behinderungen und blind zur Welt. „Ich hatte mich noch nie mit dem Thema Behinderung auseinandergesetzt“, gesteht sie.
Während die Ärzte versuchten ihrer Familie zu helfen, wird sie von ihrer Community abgelehnt. „Sie nannten mich die böse Frau“, empört sie sich und entscheidet: „Ich möchte Lucy genannt werden! Nur Lucy!“ Ihre Hände geben ihren Worten Nachdruck. Lucy zog sich aus ihrer Community zurück und kämpfte. „Ich wollte nicht, dass sich meine Tochter schuldig fühlt oder Schuld an meinem Schicksal hat.“
Es gibt eine Lucy, die hilft
Neben einem Kindergartenplatz für ihre Tochter suchte Lucy nach neuer Arbeit. Die Suche gestaltete sich für die Familie jedoch schwieriger als gedacht, denn die Hamburger Kindergärten lehnten sie ab. Eine neue Kita versprach allerdings Hoffnung und Lucy fragte zunächst nach einem Arbeitsplatz. Die Leiterin sagte ab, doch Wanjiku blieb beharrlich und erhielt die Zusage als Köchin. Nach einem harten Jahr folgte die Zusage für Rochelle. Wenige Monate später durfte Lucy ihre Tochter sogar 1:1 betreuen – fünfeinhalb Jahre war sie immer an deren Seite. „Für mich war das ein Lottogewinn“, strahlt Lucy über den ganzen Bildschirm. Wenig später machte sie eine Ausbildung zur Heilerzieherin. „Ich habe meiner Community gesagt: „Ich gehe,“ hier macht sie eine kurze Pause, „aber ich werde zurückkommen.“
Nach ihrer Ausbildung zur Heilerzieherin machte Wanjiku 2017 ihren Abschluss, kehrte in ihre Community zurück und versuchte das Thema Behinderungen zu sensibilisieren. Nach den Erlebnissen fühlt sie sich ängstlich. „Als dunkelhäutige Frau musst du kämpfen!“ Ihre alte Selbsthilfegruppe gab ihr Halt, denn hier sprachen die Frauen dieselbe Sprache. Sie motivierten und halfen sich selbst sowie anderen. Die Hilfsbereitschaft der Gruppe sprach sich herum. „Wir haben festgestellt, wir müssen was unternehmen“, erinnert sich Lucy lebhaft. Im Mai 2017 lässt sich die Gruppe mit Hilfe des Paritätischen Kompetenzzentrums und Leben mit Behinderung offiziell als Verein eintragen.
Sind wir gut genug?
Mit der Gründung des Vereins stellte sich Lucy neuen Herausforderungen. „Die erste Herausforderung war, dieses Projekt überhaupt zu starten“, grinst sie, „und Nummer zwei: Die Menschen zu finden.“ Sie erinnert daran, dass Behinderungen immer noch ein Tabuthema ist. „Wir sind behindert von Innen. Ein Tabu ist vieles, aber nichts was man sehen kann oder was man hören kann, sondern was aus dem Inneren kommt.“ Als einziger afrikanischer Verein in Hamburg, der sich mit dem Thema Behinderungen auseinandersetzt, standen sie unter Druck. „Die Angst etwas falsch zu machen, war sehr groß. Sie dürfen diesen Spruch nicht vergessen: ‘Wir sind hier immer noch in Deutschland!’ In Deutschland kann es anstrengend sein, denn die Dinge müssen richtig sein. Am besten zu hunderttausend Prozent.“ Lucy und ihr Team ließen ihre Ängste hinter sich und bauten den Verein Schritt für Schritt auf.
Das Thema Behinderung war „wow“!
Im Sommer 2017 stellte sich der Verein am African Day zum ersten Mal der Öffentlichkeit vor. „Das Thema Behinderung war „wow!“. Die Leute in der Community waren alle so WAS?!“, lacht Lucy laut. Tumaini e. V. betreut Familien von überall, lädt zu Veranstaltungen ein, gibt Workshops zum Thema Empowerment, stärkt die Resilienz und ist ein Ansprechpartner für verschiedene Bedürfnisse. Kommen kann, wer Hilfe braucht. Dem Verein ist es wichtig gut zu informieren. „Es gibt so viele Informationen. Wir kennen Familien, die wissen auch nach drei Jahren nicht, dass es Hilfe X gibt“, erklärt Lucy sachlich. Besonders Familien, die neu in Deutschland sind, haben es schwer und Angst ihre Kinder nicht integrieren zu können. „Innerhalb dieser Zeit geht es Eltern gesundheitlich schlecht.“ Ein Grund, warum es Angebote für alle Familienmitglieder gibt. „Wir überlegen gemeinsam mit den Betroffenen, was sinnvoll ist“, macht Lucy deutlich.
Bevor man mutig ist, muss man akzeptieren
Trotz des großen Engagements und der zahlreichen Angebote des Vereins, fällt es vielen Eltern schwer auf den Verein zuzugehen, denn oft fehlt ihnen der Mut. „In dem Moment, in dem wir Eltern ein Kind mit Besonderheiten bekommen, ist unser Mut erst mal verloren. Unser Bild, vor allem unser Frauenbild, ist kaputt. Das hat ganz große Auswirkungen auf unser Leben. Mutig sein, kommt nicht von heute auf morgen. In dem Moment, in dem man alles akzeptiert, ist man mutig“, erklärt Lucy ruhig. „Ich empfehle allen keine Einzelkämpfer zu sein. Ich kann aus Erfahrung sagen, dass man verliert. Wir wollen Löwen sein, aber irgendwann ist unsere Kraft auch zu Ende.“ Verständnis ist besonders wichtig für ihre Arbeit. „Teilweise muss man einfach nur zuhören.“ Sie sagt auch: „Man darf nicht vergessen, dass wir uns als Migrant*innen auch manchmal ein wenig unterdrückt fühlen. Uns fehlen die Vorbilder. Gerade zum Thema Behinderung.“
Rede über das, was dein Kind kann
In Lucys Augen sind es kleine Schritte zum Erfolg. „Es ist normal anders zu sein. Und anders sein heißt nicht, dass man andere Möglichkeiten hat oder Dinge nicht mitgestalten kann“, sagt sie. Seit ihrer Gründung nimmt sie Fortschritte, die sie mit ihrem Verein und auch mit den Kindern macht deutlich wahr. „Natürlich darf man nicht naiv sein und nicht nur darauf schauen, was das Kind nicht kann, darum geht es nicht, sondern darum, das Kind zu stärken.“
Eine Situation nie negativ betrachten
Jeden Tag stellen sich die Mitarbeiter*innen von Tumaini e. V neuen Aufgaben, damit es den Kindern und Familien gut geht. „Motivation ist sehr wichtig. Es geht nicht um uns, es geht um andere. In dem Moment, in dem man spürt, dass es um sehr viel mehr geht, ist es Motivation. Und mehr brauchen wir nicht.“ Es gibt aber auch die Momente der Hoffnungslosigkeit. „Wenn ich z. B. Eine Frau sehe, die nicht in der Lage ist sich als Frau zu sehen, nur weil sie ein Kind mit Behinderung hat und keine Unterstützung bekommt.“ Lucy hat aber ein gutes Gegenmittel: „Ich schaue immer zurück. Und denke: Wenn ich es als afrikanische Frau aus Nairobi geschafft habe, dann schaffen es andere auch.“
Eine Stimme ohne Angst
Als Mutter macht sich Lucy nicht nur Gedanken um die Zukunft ihrer eigenen Tochter, sondern auch um die von anderen Mädchen. Sie erklärt, dass es afrikanische Mädchen nicht einfach haben, da das Bild der Frau immer noch veraltet ist. Deshalb wünscht Lucy sich, dass Mädchen ihre Stimme nutzen und keine Angst haben. „Wenn wir diese Generation unterstützen und sie ihre Ressourcen wirklich nutzen und mit anderen teilen, dann haben wir was Gutes gemacht.“ Man merkt deutlich, dass das Thema sie sehr beschäftigt. Gerade in der Pandemie hat Tumaini e. V. miterlebt, was Gewalt und Depressionen mit Mädchen und jungen Frauen macht. „Corona hat bestätigt, dass in Hamburg etwas stattfinden muss, für Afrikanerinnen, allgemein für Mädchen und Frauen! Abhängigkeit und das Frauenbild sind große Probleme!“Jüngere Eltern unternehmen bereits etwas für das Selbstbewusstsein ihrer Kinder, dennoch ist es schwer. „Und dazu kommt noch die Behinderung. Da können Sie sich mal vorstellen, wie das ist.“
„Ich bin was wert!“
Das Thema Mädchen und junge Frauen ist bei Tumaini e. V. sehr präsent. Der Verein plant ein spezielles Programm für Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund, das sie selbständiger und unabhängiger machen soll – insbesondere finanziell unabhängig. „Wir möchten diese Frauen ermutigen selbstständig zu sein und ihr Frauenbild stärken, um zu sagen: „Ich bin was wert“. Ich kann was auf den Tisch bringen. Ich warte nicht bis der Tisch gedeckt ist, sondern ich denke mit und liefere.“ Sie merkt, dass Migrant*innen oft keine große Auswahl auf dem Arbeitsmarkt haben. „Sie wissen schon durch die Schule wohin die Reise geht. Und das muss nicht sein. Das wollen wir Mädchen klar machen.“ Eine weitere Idee: Vorbilder schaffen. Dazu sollen Menschen, die ihren Weg geschafft haben, persönlich mit den Mädchen und jungen Frauen in Kontakt treten.
Aufwachsen mit der Zeit
Lucy ist mit ganzem Herzen dabei. Auch auf die Frage „Wie sollten Mädchen und Jungen in Deutschland in Zukunft aufwachsen?“ findet sie klare Worte: „Die Jungen und Mädchen sollen mit der Zeit wachsen. Geschichten sind da, um zu begleiten und nicht zu vergessen, woher man kommt, aber wir sollen im Jetzt leben. Das Thema Gleichberechtigung zwischen Jungen und Mädchen muss noch intensiviert werden. Es macht keinen Sinn eine Denkweise von damals zu haben, weil man lebt heute .“ Dafür braucht es laut Lucy eine gesunde Gesellschaft, in der jeder eine Chance und eine Möglichkeit hat sich zu entwickeln und etwas zu erreichen.
Tumaini bedeutet auf deutsch „Hoffnung“. „2012 wurde mir Hoffnung geschenkt und diese Hoffnung schenke ich anderen.“ Ob Lucy eigentlich weiß, dass sie selbst ein ganz großes Vorbild ist?
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