August 1993.
Die Passagiere des Flugs Il-96 Sankt Petersburg – Hamburg, werden zum Boarding gebeten. Eine junge Frau, kurze Haare, runde Brille, findet ihren Platz direkt am Fenster. Dies ist ein schicksalhafter Flug für sie. Ihre Gedanken rasen. Sie sucht die Blicke anderer Passagiere, die in die Kabine drängen. Wer beginnt gerade ein neues Leben, bewaffnet nur mit ein paar Habseligkeiten, die ins Handgepäck passen? Manchmal trifft sich ihr Blick mit dem anderer junger Passagiere. Nur für einen Augenblick. Dann schauen beide verlegen weg. Was treibt sie ins Ausland, in das wohlgeordnete Deutschland? Warum schämen sie sich?
Die junge Frau dreht sich zum Kabinenfenster. Das Terminalgebäude wirkt trostlos und schäbig. Obendrüber schweben riesige, ergraute Lettern: „HELDENSTADT LENINGRAD“. „Heldenstadt“ durften sich sowjetische Städte nennen, die sich im Großen Vaterländischen Krieg mit besonderer Tapferkeit gegen den Faschismus verteidigt und gesiegt hatten. Später wird an diesem Flughafen „Leningrad“ durch „Sankt Petersburg“ ersetzt werden und die „Heldenstadt“ verschwinden. Aber jetzt scheint es der jungen Frau, als hieße „Heldenstadt“ vor allem eins: dass all die jungen Menschen, die dieses Land für immer verlassen wollen, die ihr Glück im Deutschland suchen, nicht mehr dazu gehören. Eine von ihnen bin ich, Katja Fedulova.
Zu ungeduldig für lange Veränderungsprozesse
25 Jahre lang lebe und arbeite ich nun schon als Filmemacherin in Deutschland, seit ich den chaotischen Zuständen meines Heimatlandes in den 90ern Jahren entflohen bin. Jenes Land, das mitten im Umbruch war, auf der Suche nach neuen Perspektiven, voller Hoffnungen auf vielleicht Besseres. Ich war zu jung, zu ungeduldig, um an dem langen Veränderungsprozess meines Heimatlandes teilzunehmen. Ich wollte mein Leben auf der Stelle ändern. Und ging nach Deutschland. Um mich in der Fremde zurecht zu finden, wählte ich mir eine neue Identität: Ich wollte deutsch sein. Es hat eine Weile gedauert, bis ich erkannt habe, dass es unmöglich ist, die eigenen Wurzeln komplett zu verleugnen.
Ich begann über meine Vergangenheit nachzudenken. Warum bin ich und mit mir viele andere junge Russen Anfang der 90er Jahre in den Westen gegangen? Meine Generation machte den Schulabschluss kurz nach der Wende. Russland erlebte damals eine schwere Depression. Unerschwingliche Studiengebühren, dramatisch ansteigende Arbeitslosenzahlen und willkürliche Kriminalität machten uns das Leben schwer. Alkohol- und Drogenprobleme, besonders bei den jungen Männern, waren an der Tagesordnung. Und während die Scheidungsrate zunahm, fanden immer weniger Eheschließungen und Geburten statt.
Was hat sich seit damals in meinem Land verändert? Mit Ernüchterung stelle ich fest, dass Russland sich zivilisatorisch zurückentwickelt. Die schwächer werdende Wirtschaft und die erstarkende Diktatur verursachen erneut ein Chaos im Land. Andersdenkende werden mit Methoden zum Schweigen gebracht, die an sowjetische Zeiten erinnern. Nationalistische Bewegungen wachsen in bisher unbekanntem Ausmaß. Russisch-orthodoxe Institutionen diktieren der Politik immer dreister eigene Interessen. Die Bürgerrechte werden täglich verletzt. Junge Menschen müssen wieder um ihre Existenz fürchten oder, wie ich damals, ins Ausland gehen.
Hoffnung und Sorge
Aber ist Flucht die einzige richtige Lösung, um ein würdiges Leben zu führen? Was kann ich heute für meine alte Heimat tun? Diese Fragen treiben mich immer wieder mit der Kamera nach Russland zurück, begleitet von gemischten Gefühlen: Scham, Zuversicht und dem ungesättigten Bedürfnis nach eigenem Engagement. Meine Sehnsucht ist groß. Habe ich einen differenzierteren und objektiveren Blick auf mein Land als meine Landsleute, die geblieben sind? Kann ich diejenige sein, die meiner neuen Heimat meine alte näher bringen kann? Ist es möglich, mit meinen Protagonisten zusammen für Russland zu hoffen? Kann ich Zeugin, Mitwisserin, am liebsten sogar „Mittäterin“ werden?
In meinen bisherigen Dokumentarfilmen habe ich Frauen und Männer aus der jungen Generation Russlands porträtiert. Ihre Sichtweise ist zum Teil rechts-nationalistisch und ultrakonservativ. Meine Auswahl traf ich nach politischen und sozialen Kriterien, die ich in der derzeitigen russischen Gesellschaft als gleichermaßen exemplarisch wie alarmierend wahrnehme. Noch bis vor kurzem galten die Werte Europas und insbesondere Deutschlands den meisten russischen Bürgern als Orientierung. Doch in der letzten Zeit werden viele europäische Gesetze von Russen verhöhnt, am stärksten die Toleranz gegenüber Homosexuellen und die Aufnahme von Geflüchteten. Doch auch Deutschland spaltet sich. Das Land, das einst von Toleranz und multinationalem Miteinander schwärmte, zeigt heute zunehmend Unsicherheit und Unstimmigkeit.
Ich habe Hoffnung für meine alte Heimat, und ich fürchte auch um meine neue. Den russischen Nationalismus kann ich nicht anschauen, ohne den Vergleich mit den neuen nationalistischen Strömungen in Westeuropa zu sehen, das von der Flüchtlingskrise erschüttert wird. Wie kann ich meine Heimaten lieben?
Katja Fedulova
Textmitarbeit Calle Overweg / Ulrike Zinke