Frank: Reber, du bist im Dezember 2014 in Deutschland angekommen. Was waren die Gründe für deine Flucht?
Niemand wird ‚einfach so‘ seine Familie, seine Freunde, seine Umgebung verlassen und in eine vollkommen ungewisse Zukunft gehen. Wie war das bei dir?
Ich habe acht Geschwister, und ich bin der Jüngste. All diese Älteren haben mich nicht verstanden, schon vorher nicht. Vor allem, was den Glauben und die Einstellung zum Leben angeht, da bin ich eher liberal. Und meine Familie und die ganze syrische Gesellschaft halten meiner Meinung nach sehr an veralteten Traditionen fest. Es fiel mir schon lange Zeit schwer, in einer Gesellschaft zu leben, in der abweichender Glaube und abweichende Meinung bestraft werden. Du musst wissen, dass ich schon vor dem Bürgerkrieg davon gesprochen habe, irgendwann nach Europa zu wollen. Die Reaktion meiner Familie war unmissverständlich: „Das ist dann der Bruch mit der Familie.“
(Kein) Bruch mit der Familie
Weggehen wollen und dann von der Familie gesagt bekommen, dass sie mit dir nichts mehr zu tun haben will – das haben die doch hoffentlich nicht durchgehalten?
Nein, zum Glück nicht. Ich habe während der Flucht und auch heute noch Kontakt zu ihnen, meistens per WhatsApp. Zwei meiner Geschwister sind mittlerweile auch nicht mehr in Syrien, eine Schwester lebt im Libanon, ein Bruder im Irak. Doch ich war als der Jüngste der Erste, der weggegangen ist. Heute sagen meine Geschwister, dass es vielleicht doch gut für mich war, nach Europa zu gehen.
Wenn ich dich jetzt frage, ob deine Familie und deine Freunde vielleicht sogar neidisch auf den großen und gewagten Sprung von dir sind … dann klingt das europäisch-arrogant, oder?
Nein, neidisch ist niemand von ihnen, sie freuen sich jetzt sogar darüber, was ich gemacht und geschafft habe. Und die Frage ist gar nicht europäisch-arrogant, schließlich könnte ich ja auch neidisch auf das Leben meiner Schwester im Libanon sein … bin ich aber nicht.
Okay – doch zurück in den Herbst 2013, als du losgezogen bist. Vierzehn Monate warst du unterwegs bis zu deiner Ankunft und Deutschland.
Was hast du in dieser Situation gemacht?
Verkehrsplanung – wie bist du darauf gekommen?
Das ist ja prima, wenn du in Deutschland deine Berufsausbildung nutzen kannst …
Mal was ganz Anderes wagen
Das heißt, du hast Arbeit in deinem Fachgebiet – und fängst dann was ganz Anderes an?
Für mich war das Thema ‚Verkehr‘ auch stark mit Syrien verknüpft. Ich wollte aber in Deutschland sein. Deshalb habe ich begonnen, Sozialarbeit zu studieren.
Na, das ist von Verkehrsplanung eher weiter weg. Doch gerade die ‚krummen‘ Lebensläufe sind ja meistens die interessantesten …
Sorry – da beißt du dich mehrfach durch, stehst immer wieder auf, wagst Neues und hängst dich rein. In Hochglanz-Zusammenhängen mit StartUps nennt man jemanden wie dich ‚Existenzgründer‘, oder? Und Existenzgründer werden normalerweise unterstützt, begleitet und getragen. Und nicht allein gelassen oder gar hinausgetrieben. Wie bezeichnest du dich eigentlich – immer noch als Flüchtling?
Woran machst du das fest?
Ich habe eine klare Perspektive, was ich wo tun möchte: Nach meinem Studium im Bereich der Sozialarbeit in Deutschland arbeiten. Und ich bin finanziell eigenständig, ich bekomme keine Sozialhilfe, sondern BAföG. Außerdem arbeite ich als Kellner und bin bei einem Träger der ambulanten Familienhilfe tätig. Darüber hinaus spreche ich mittlerweile so gut Deutsch, dass ich als ehrenamtlicher Dolmetscher tätig bin. Ich helfe also anderen, sich hier in Deutschland zu verständigen und einzuleben.
Verstanden – eine Perspektive haben, wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen und die Sprache beherrschen – das macht dich zum Einwanderer. Und wo ist für dich ‚Heimat‘?
Die ist da, wo meine Freunde sind: In Aachen, in Syrien und auch weltweit in Österreich, Kanada, Australien. Heimat hat doch deshalb etwas mit einem Ort zu tun, weil es genau dort die Menschen gibt, mit denen man sehr gern zu tun haben möchte.
Integration
Nun reden viele von ‚Integration‘ – ist das für dich wichtig, und: Was gehört dazu?
Integration ist für mich wichtig, damit ich mich dort, wo ich lebe, wohl fühle. Damit ich mich nicht als fremd fühle. Dazu gehören Sprache, Kultur und Bekannte, Freunde. Ich hatte ja zu Anfang gesagt, dass die 2015/16 nach Deutschland geflohenen Menschen den Vorteil hatten, schneller anerkannt zu werden. Ich hatte den Vorteil, von Beginn an mehr Kontakte über den Kreis der Flüchtenden hinaus zu bekommen, weil wir damals nicht so viele waren. So ergaben sich Kontakte zu anderen viel eher.
‚Integration’ heißt doch nicht nur, dass du dich an Gepflogenheiten anpassen sollst – gibt es auch so etwas wie ‚Integration andersherum‘, dass also Deutsche etwas von dir übernehmen?
Da gibt es ein schönes Beispiel. Typisch deutsch ist für mich, dass nach einem gemeinsamen Essen im Restaurant alle für sich einzeln bezahlen. Wie kann das sein, zusammen zu essen und getrennt zu bezahlen? Das habe ich nie verstanden, ich fühle mich dann komisch, für mich wird durch das getrennte Bezahlen das Band des gemeinsamen Essens zerschnitten. Das habe ich so auch meinen deutschen Freunden kommuniziert. Die fanden es zuerst merkwürdig, dass ich das merkwürdig fand. Jetzt ist es so, dass einer heute für alle bezahlt, beim nächsten Mal jemand anders. Und da wird keine typisch deutsche Liste geführt, das regelt sich von selbst. Da haben sich meine deutschen Freunde ein wenig an mich angepasst, die haben sich so gut integriert, dass das mittlerweile gar kein Thema mehr ist.
Dann ist das Anpassen und aufeinander Zugehen keine Einbahnstraße. Sag mal, Reber, wann hast du für denn zum ersten Mal gemerkt, dass du hier wirklich angekommen bist?