Für meine Doktorarbeit bin ich 2012 nach Wien gezogen und habe dort in dem europäischen Forschungsprojekt „FREE“ gearbeitet. Witzige Akronyme sind wichtig in solchen Projekten, denn Wissenschaftler*innen wollen damit bei all ihrer Ernsthaftigkeit auch ihren Humor beweisen. FREE steht für „Football Research in an Enlarged Europe“ und damit ging es um die Bedeutung von Fußball in Europa und um die Bedeutung von Fußball für Europa. Europa – und das war eins der schönsten Dinge im Projekt – meinte hier mal ausnahmsweise nicht nur die EU. Das Projekt hatte ein sehr viel größeres und offeneres Verständnis davon, was Europa meinen kann und wer bei den verschiedenen Bedeutungen ein- oder ausgeschlossen wird. Mein Thema in diesem Projekt lautete „Migration und Fans in Europa“.
Fußball in Wien
In Wien gehört die größte Anhänger*innenschaft von Fußballclubs, die nicht in Österreich angesiedelt sind, zu kroatischen, serbischen und türkischen Vereinen. Mein Fokus fiel recht bald auf Fans der großen Istanbuler Clubs Fenerbahçe und Galatasaray, da ich unter ihnen als erstes Interviewpartner*innen fand und die Clubs spannende Kontrahenten in einer Stadt sind. Merchandise der beiden Clubs ist an vielen Orten in Wien sichtbar und gehört zum Stadtbild. Ganz klassisch ethnografisch habe ich die Fans für eineinhalb Jahre in ihrem Alltag in Wien begleitet und interviewt. Und manche auch für einen Sommer in Istanbul.
Forschung
Forschung muss nicht tagesaktuell sein. Es kommt allerdings immer wieder vor, dass sich in dem beforschten Feld einiges verändert, bevor die Forschung veröffentlicht wird. Dies ist auch in meinem Feld so. Die Bedeutung der Themen, die ich meiner Doktorarbeit behandelt habe, hat sich aber nicht geändert. Als ich 2013 für Interviews und teilnehmende Beobachtungen nach Istanbul flog, stand das Land gerade unter großem Einfluss der Gezi-Proteste. Auch in den Fußballstadien gab es Rufe sowohl für als auch gegen die Protestbewegungen. In Wien waren die Proteste ebenfalls sehr präsent. Das war alles vor 2015, vor der sogenannten Balkanroute, vor Medikamentenverteilungen und Essensausgaben an Bahnhöfen, vor dem weiteren Erstarken der rechten Parteien in Europa. Es hat sich seitdem also einiges geändert. Die Verhandlung von Zugehörigkeiten ist allerdings immer aktuell geblieben.
Personen im Mittelpunkt der Forschung
Im Mittelpunkt meiner Forschung standen sehr unterschiedliche Personen, die alle einen Bezug zur Türkei haben und in Österreich leben. Die einen sind bereits in Österreich geboren und haben türkische Eltern oder Großeltern, kommen selbst aus der Türkei. Die anderen sind Studierende, die für ein Studium nach Österreich gekommen sind – meist für ein Kunst- oder Musikstudium. Sie sind weiblich oder männlich, sind wenig bis sehr gut gebildet und waren zum Zeitpunkt der Forschung zwischen 20 und 50 Jahre alt. Also alle sehr unterschiedlich. Was sie alle verbindet – und das ist für Fußballfans sehr typisch – ist, dass sie ihre verschiedenen Zugehörigkeiten auch über das Fansein verhandeln.
Fans und ihre Clubs
Wenn Fans über ihre Clubs erzählen, erzählen sie meist auch eine Geschichte über sich. Und wenn sie davon berichten, was sie mit dem Club verbindet, dann sprechen sie davon, wie sie sich sehen und wie sie gesehen werden möchten.
Wenn ich also von meinem Club erzähle, dass ich ihn so toll finde, weil er so viel antirassistische Arbeit macht und weil es tolle Aktionen gibt, Frauen* mehr Platz im Stadion zu geben, dann erzähle ich auch darüber, was mir wichtig ist und wie ich mich in der Welt positionieren möchte. Ich verhandle über das Erzählen meine eigenen Zugehörigkeiten wie Geschlecht, Subkultur, Alter, Nationalität, Politik etc.
Zugehörigkeiten im Prozess
Als Ethnologin finde ich diesen Prozess deshalb so interessant, weil hier deutlich wird, dass Zugehörigkeiten nichts Starres sind. Sie finden alle gleichzeitig statt, können sich ergänzen oder sich sogar widersprechen. Das ist nicht unbedingt ein konfliktfreier Prozess. Aber es ist eben ein Prozess und nicht etwas Unveränderbares. Gerade im Fußball wird Zugehörigkeit zu einem Club häufig als endgültig und gegeben deklariert. Deshalb ist es schön zu beobachten, wie auf europäischer Ebene in der Champions League oder der Europa League auch für den Erzfeind mitgefiebert werden kann, wenn einem Fan in dem Moment die nationale Zugehörigkeit wichtiger ist oder die andere Mannschaft als noch größeres Übel erscheint.
Vorbestimmte Zugehörigkeiten
Umso schmerzvoller sind dann aber die Momente im Alltag, wenn eine Entscheidung zur Zugehörigkeit von anderen verlangt wird, wo man* eben keine treffen kann oder will, zum Beispiel bei der Staatsbürger*innenschaft. Oder wo eine Zugehörigkeit von außen vorbestimmt oder gar abgesprochen wird, wie es bei Geschlechterfragen immer noch oft der Fall ist.
Verschiedene Zugehörigkeiten
Wir sind also alle immer vieles und manches vielleicht nur temporär. Eine meiner Interviewpartnerinnen erzählte so im Gespräch über sich als Galatasaray-Fan, Frau, Istanbulerin, Kunststudentin, Fenerbahçe-Sympathisantin in der Champions League, Wienerin, Türkin, Österreicherin, Hipster, Feministin uvm. In ihrer Erzählung haben sich diese Zugehörigkeiten zeitweise ergänzt, dann sind sie in Konflikt geraten und manchmal standen sie einfach nebeneinander.
Zugehörigkeiten können oft etwas Schönes sein. Gerade im Fußball. Viele Menschen suchen nach Gemeinschaft und wollen Teil einer größeren Gruppe, eines Kollektivs sein. Das war für viele meiner Interviewpartner*innen einer der Hauptgründe Fußballfan zu sein. Gemeinsam ins Stadion, gemeinsame Freude, gemeinsame Trauer, gemeinsames Singen. Wahlmöglichkeiten zu haben, wer man* sein will, wozu man* gehören will und wozu eben nicht, ist jedoch entscheidend.
Nina Szogs ist freiberufliche Kulturwissenschaftlerin und Ethnologin in Hamburg und Wien. Sie arbeitet zu den Themen Intersektionalität, Teilhabe und Nachhaltigkeit und hat zu Fußballfans und Migration promoviert. (Football Fandom and Migration: An Ethnography of Transnational Practices and Narratives in Vienna and Istanbul, 2017)