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Werte von Barmherzigkeit

Am Samstagabend bin ich heimgekommen und habe wie immer die Tagesthemen angeschaut. Eine halbe Stunde lang ging es um das scheinbar aktuell brisante Thema "Flüchtlingskrise". Eingeleitet wurde die Sendung mit der Frage "wie mit Flüchtlingen umgehen, die nun verstärkt Richtung EU drängen?“.

Das Wort zum Sonntag

Umgegangen wird bisher jedenfalls so, dass Tausende von Menschen an den europäischen Grenzen mit Tränengas und Wasserwerfern zurückgehalten werden. Es wird offenbar alles unternommen, um Menschen davon abzuschrecken und abzuhalten, die Grenze zur EU zu überquerern.

Weitere Tausende, darunter viele Kinder, harren auf Inseln aus, auf denen inzwischen bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen. Dann hörte ich schnell auf, mir diese Anblicke anzutun, da mich alleine seine Schilderung an Geschehnisse zurückerinnert, die ich ungern präsent hätte. Anschließend klickte ich im Internet auf den Kommentar einer Pastorin, Annette Behnken. Sie sprach „Das Wort zum Sonntag“. Im Grunde habe ich mit einer derartigen Sendung nichts am Hut, dennoch fühlte ich mich dazu motiviert, weiterzuschauen. Diese unglaublich nett aussehende Frau fragt nämlich in ihrem Kommentar anklagend: „Dürfen wir als Europäer unsere gemeinsamen Werte von Barmherzigkeit und der Hilfe für Schwache hier außen vor lassen? Weiterhin stellt sie fest: „Wir verkaufen unsere grundlegenden Werte.“

Unbehagen am Samstagabend

So verbrachte ich meinen Samstagsabend an diesem teilweise warmen Wochenende in meinem relativ sicheren Appartment in Deutschland. Wieder habe ich die menschliche Kälte, das menschliche Versagen, das menschliche Leid, das letztlich aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt zu sein schien, vor Augen gehabt. Und dann? Dann bin ich ins Bett gegangen mit einem unbeschreiblichen Unbehagen! Ein Unbehagen, dessen Ursache ich noch ergründen möchte.

Bilder von Flüchlingslagern

Gewiss können wir heute so tun, als würden die Bilder von Verelendung in Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln an uns abprallen oder uns gar nicht beeindrucken. Das sind Bilder von Menschen, die vor Krieg und Bomben geflohen sind, von Menschen, die mit Stacheldraht, Tränengas und Wasserwerfern von Europa ferngehalten werden. Es sind Bilder von Menschen, die im Schlamm versinken, in der Kälte campieren und der menschlichen Kaltherzigkeit ausgeliefert sind. Und wir sehen die Bilder von Frauen und Kindern und offensichtlich Bedürftigen und Erbarmungswürdigen.

Natürlich können wir irgendwelche Begründungen finden, warum diese trostlosen Menschen für ihre Lage selbstverantwortlich sind. Vielleicht  mit ihrem Glauben, mit ihrem Kulturkreis und zwischenzeitlich sogar mit ihren Genen. Aber so denken die meisten von uns nicht! Und wenn die Bilder von Kindern sind, dann gibt sogar Alexander Gauland zu, dass diese unangenehm seien und wir sie aushalten müssten. Warum fällt es uns Menschen so schwer, diese Bilder hinzunehmen und dabei gleichgültig zuzusehen?

Kinder und  Barmherzigkeit

Gleichgültigkeit ist anstrengend und beschwerlich, denn sie liegt uns nicht- wir sind nicht dazu veranlagt. Vielmehr sind wir zur Barmherzigkeit geschaffen, durch Gott, durch unsere Zivilisation und schon allein durch unser Menschsein.

Ich stelle mir vor, dass viele Kinder sich gar nicht die Frage nach Ordnung, Kontrolle, Kapazitäten oder gar gemeinsamen Lösungen stellen, wenn sie weinenden, hungernden, erfrierenden oder ertrinkenden Menschen helfen wollen. Denn der Wille, Menschen in ihrer Not zu helfen, steckt in uns Menschsein. Damit verhalten wir uns kindisch oder gar unvernünftig, wenn Verzweifelte, Ausgebombte, Vertriebene und Schutzbedürftige nach Hilfe schreien.

Erwachsene und Barmherzigkeit

Aber wir Erwachsene verhalten uns immer weniger kindisch und somit immer weniger barmherzig. „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ heißt es in der Bergpredigt; Vielleicht gehen wir auf die Straßen und verlangen, dass wir Menschleben retten, Menschenrechte bewahren und Kinderseelen schützen. Einige von uns setzen sich vielleicht für die Integration vor Ort ein, einige spenden vielleicht an UNO Flüchtlingshilfe etwas Geld oder sammeln Kleiderspenden ein und schicken sie an die Geflüchteten. Oder wir unterschreiben mal eine Petition, die zur Aufnahme von besonders Schutzbedürftigen auffordert. Vielleicht wählen einige von uns Parteien, die wenigstens nicht auf Flüchtlinge schießen lassen wollen.

Denn selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Damit sind nicht etwa die Höckes, Gaulands und Weidels gemeint. Sie berufen sich zwar auf das Christentum und geben vor dieses zu verteidigen. Aber sie zeigen, was der christlichen Lehre grundlegend widerspricht, nämlich diese verbitterte Engherzigkeit! Nun muss man offen zugeben: So instinktiv, wie es Kinder täten, nämlich fraglos zu helfen und Barmherzigkeit zu praktizieren, verhalten wir Erwachsene uns immer seltener!

Unbehagen am Samstagabend

Zurück zu dem Unbehagen, das mich am letzten Samstag plötzlich überkam. Mir wird im Augenblick klar, woher das kam. Dieses Unbehagen durchzuckte mich deshalb, weil ich etwas gespürt habe: Ich habe allmählich den menschlichen Instinkt, in Notsituationen ohne Wenn und Aber zur Hilfe zu eilen, verloren. Mittlerweile scheine ich ungerührt zu leben. Wie oft  geschieht es,  dass ich über vieles hinwegblicke und mir das Leid anderer vom Halse zu halten suche. Und vor allem wie unbarmherzig bin ich zu mir selbst. Indem ich mich ständig auf die Vernunft berufe, lösche ich in mir die Barmherzigkeit systematisch aus. So erkläre ich mir dieses Unbehagen, das sich bewusst in Scham verwandelt. Ich meine die Scham, die Barmherzigkeit, zu unterdrücken und stattdessen gleichmütig schlafen zu gehen. Vielleicht erschrecke ich gerade, weil ich feststelle, wie „vernünftig“ ich im Laufe der Zeit geworden bin.

Vernunft und Barmherzigkeit

Und die erschreckende Neigung zur Vernunft unserer Zeit macht sich vor allem an der nichtssagenden Phrase „Das Jahr 2015 darf sich nicht wiederholen“ fest. Inzwischen ein Mantra, das man ununterbrochen von Verantwortungsträgern hören kann. Ja, Bilder von Flüchtlingskarawanen, das Gefühl des Kontrollverlusts, die Monate dauernden Debatten, die Politik verändert und das Land polarisiert haben, das alles darf nicht wieder passieren. Aber gerade tatenlos zuzusehen und darauf zu setzen, dass die europäische „Wertegemeinschaft“ eine gemeinsame Lösung findet, Schutzbedürftige aufnimmt und gerecht verteilt, dies kommt augenblicklich eher unwahrscheinlich vor. Viele von uns lassen sich anscheinend so sehr von der Vernunft leiten, dass die kindische Barmherzigkeit dabei keinen Platz finden kann.

Diese Art von Rationalität möchte ich gar nicht denunzieren. Das fällt mir schwer, weil ich selbst in meinem Leben doch nicht anders handle und auch nicht anders handeln kann, wenn ich in dieser Welt als Erwachsener existieren will. Das Szenario von 2015 zu verhindern, ist wohl vernünftig. Es bedeutet jedoch nicht, niemanden aufzunehmen und schon gar nicht kaltherzig zuzusehen, wie Kinder in den Lagern aus Verzweiflung Suizidversuche begehen.

Ausblick

Und nun was tun? Mir steht das Zitat von Erich Kästner seit langem vor Augen „Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch“. Und erst jetzt wird mir bewusst, was dies eigentlich bedeutet. Es lehrt uns nämlich: Wir Erwachsene sollten das Kind in uns bewahren, dann stellt sich die Frage nach dem unbeschreiblichen Unbehagen nicht mehr!

Bleibt gesund und behütet!

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Ich bin 29 Jahre alt, studierte Social Work in Syrien, lebe seit Ende 2015 im schönen Allgäu, absolviere aktuell Studium der Sozialpädagogik in Kempten und bin beruflich parallel zum Studium im Integrationsbereich teilzeitbeschäftigt.

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