„Die Heimatländer sind keine geografischen Bereiche, die durch Stacheldrahtzäune oder internationale Konventionen definiert werden. Für Migranten und Flüchtlinge hat das Heimatland eine große Bedeutung“, sagt Nawar Jacob. Sie versucht, sich dem Konzept von Integration über Identität zu nähern. Die größte Integrationshindernisse aus Sicht von Jacob sind persönliche. Schwieriger als objektive Probleme zu überwinden, z.B. aufgrund der Integrationspolitik, findet sie es, Fragen in Bezug auf ihre Identität zu klären.
Ein Mensch ist mehr als sein Name
Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Jacob hat Bauingenieurwesen studiert und arbeitete an der Universität von Damaskus. Das Losreißen des Menschen von seinen Wurzeln verursacht ihrer Meinung nach einen Mangel an Selbstvertrauen und ein tiefes Gefühl von Verlust des sozialen Status. Das Fehlen einer klaren Vision für die Zukunft führe zu tiefen Störungen des psychischen Gleichgewichts.
Jacob kam 2016 im Rahmen des Familienzusammenführungs-Programms nach Deutschland. Ihr Mann war bereits seit 2015 dort. Sie sagt: „Ich habe nicht so viel Zeit für Bürokratie und Asyltransaktion benötigt. Ich hatte keine schwere Flucht wie Tausende andere Flüchtlinge, aber der Beginn in einer neuen Gesellschaft – ohne großen Bruch mit der persönlichen und beruflichen Geschichte des Menschen – scheint mir das zentrale Problem der wirklichen Integration in die Gesellschaft zu sein.“
Die Verunsicherung ist groß
Rokaya Sheikh Hassan, die 2018 im Rahmen des Neuansiedlungs-Programm nach Deutschland kam, glaubt das auch. Sie ist erst seit vier Monaten in Deutschland. Zuerst fühlte sie sich in Deutschland sehr fremd, aber seit sie einen Deutschkurs begonnen hat, ist dieses Gefühl schwächer geworden. Sheik Hassan hat englische Literatur studiert und arbeitete in Syrien als Lehrerin. Sie hat eine Studie unter weiblichen Flüchtlingen in Deutschland durchgeführt. Darin stellte sie fest, dass ein großer Anteil der Frauen das Fehlen einer klaren Zukunftsvision und das Erlernen von Fremdsprachen als die wichtigsten Herausforderungen ansieht.
Sie hat auch herausgefunden, dass viele Frauen ihre Rechte in Deutschland nicht kennen. Durch Meldungen in den Medien lassen sie sich schnell irritieren und bei Problemen in der Familie wissen sie nicht, an wen sie sich wenden können. Sheik Hassan betont die Wichtigkeit von Partizipation in der Gemeinschaft, um Integration zu erreichen.
Geflüchtete Frauen teilen allerdings keine grundsätzlich gemeinsame Position zu Integrationsfragen, auch nicht, wenn sie aus einer einzigen Gesellschaft kommen. Das Bewusstsein und das soziale Umfeld machen einen deutlichen Unterschied im Prozess der Integration von Frauen in die Gesellschaft.
Kulturelle Konventionen sind gewachsene Konstrukte
Die 44-jährige Umm Khalid, Mutter von vier Kindern, heißt eigentlich anders, möchte aber ihren Namen nicht öffentlich preisgeben. Sie glaubt, dass sich die Integration von Frauen in die deutsche Gesellschaft grundlegend von der Realität der Männer unterscheidet: Die Betreuung von Kindern und die Bedürfnisse der Familie behindern das Erlernen der Sprache, das Eintauchen in die neue Kultur.
Manchmal stellt der Ehemann eines der Haupthindernisse dar. Das gilt insbesondere für Familien, die aus einer traditionellen Umgebung kommen, in der soziale Bräuche und Praktiken eine wichtige Rolle spielen. Umm Khalid fällt es schwer, ihren Ehemann davon zu überzeugen, sie an sozialen Aktivitäten der Gemeinde teilnehmen oder Nachbarn zu besuchen lassen.
Gelegentlich sind auch die Meinungsverschiedenheiten in der Partnerschaft zu groß. Die Frau fühlt sich unterdrückt und das führt dann zur Scheidung – ein verbreitetes Phänomen in der Flüchtlings-Gemeinschaft in Deutschland. „Ich habe ein paar Monate nach meiner Ankunft in Deutschland um eine Scheidung gebeten“, sagt Asma¹. Sie ist 30 Jahre alt und arbeitete als Lehrerin in Syrien. „Die Probleme begannen schon nach einigen Monaten Ehe.“
In Syrien ist eine Scheidung allerdings sehr schwierig für Frauen. Die wirtschaftliche Situation von geschiedenen Frauen ist eng bemessen und es gibt Gegenwind aus der Gesellschaft. In Deutschland jedoch trennte sie sich. Ihre Situation ist dennoch auch hier schwierig: Sie lernt deutsch, wohnt allerdings in einem Heim, weil sie noch keine Wohnung gefunden hat.
Es gibt auch bürokratische Hindernisse, die eine Integration von geflüchteten Frauen in die Gesellschaft behindern. Zu ihnen zählt die lange Zeit, die eine Asylentscheidung benötigt.
Dadeed Hadid, die vor zwei Jahren nach Deutschland kam, erhielt nur einen subsidiären Schutzstatus, der es ihr nicht erlaubt, ihre Familie nach Deutschland zu bringen. Hadid war in Syrien Hausfrau. Ihr fällt es schwer, sich darauf zu konzentrieren, Deutsch zu lernen. Die Situation ihrer Familie beschäftigt sie sehr. Sie lebt wegen des Krieges in Syrien selbst nach ihrer Flucht immer noch unter tragischen Bedingungen.
Geflüchtete gleich Geflüchtete? Nein – Migration und Zeitgeist spielen zusammen.
Integration unterscheidet sich auch von Generation zu Generation unter Migrantinnen. Dghough Amane Hanane kam vor 18 Jahren aus Marokko nach Deutschland. Durch die Arbeit bei einer kleinen Süßwarenfabrik lernte sie schnell Deutsch. Heute arbeitet sie als Dolmetscherin und Betreuerin bei der Gemeinde Nidda. Sie sagt: „Ich habe nicht das Gefühl, Marokkanerin in Deutschland zu sein. Ich fühle mich als Deutsche. Die Integration ist heute einfacher als früher, weil es viele Einrichtungen gibt, die bei der Integration helfen. Zum Beispiel Deutschkurse, die mussten die alten Einwanderer selbst finanzieren.“
Dghough Amane glaubt, dass sich am Klima etwas verändert hat. Diese Veränderung macht geflüchteten Frauen Angst und ist ein Hindernis für eine effektivere Integration in die Gesellschaft. Dghough Amane sagt auch, dass das kulturelle Erbe und bestimmte Bräuche und Traditionen, die die Freiheit von Frauen einschränken, oftmals erschwerend hinzukommen. Für sie sind Wille, Entschlossenheit und Unternehmergeist der Schlüssel zur Integration.
Probleme im Alltag zwingen zur ständigen Rechtfertigung
Mädchen aus einem konservativ-islamischen Umfeld haben besonders viele Schwierigkeiten bei der Integration: In der Schule, in Bezug auf Kontakt zu Männern, beim Sport oder beim Schwimmen. Durch ihre Kleidung sind sie häufig kritischen Reaktionen von außen ausgesetzt. Es kann das Kopftuch in der Schule oder bei der Arbeit sein, dass zum Problem wird. Die 17-jährige Fatima¹ geht aufs Gymnasium. Einige ihrer Mitschüler und Lehrer schauen sie komisch an. Immer wieder muss sie eine Reihe von Fragen über den Schleier beantworte und sich rechtfertigen, warum sie ihn trägt.
In anderen Fällen sind Frauen sogar gezwungen, ihr Kopftuch abzunehmen, um Probleme zu vermeiden.
„Das Kopftuch hat mir Probleme bei der Kommunikation mit der neuen Gesellschaft bereitet.“, erzählt die 23-jährige Nora¹. „Oft haben andere eine negative Vorstellung von verschleierten Frauen. Sie denken, dass man verschlossen und starr ist.“ Bei Vorstellungsgesprächen für eine Ausbildung wurde sie oft abgelehnt. „Ich beschloss, das Kopftuch abzulegen, und ich bete immer noch mein Gebet und kommuniziere mit Gott“.
Geflüchtete Frauen und Mädchen müssen oft sehr stark sein
Marion Nies arbeitet seit mehr als 20 Jahren mit Flüchtlingen. Sie fasst die Schwierigkeiten von Frauen zusammen: „Frauen, die mit ihrer Familie nach Deutschland kommen, haben oft Probleme. Das fängt häufig schon bei jungen Mädchen an, die so sein möchten, wie andere in der Schule. Sie möchten frei leben und ihr Kopftuch ablegen aber sie stoßen in der Familie auf Ablehnung. Je älter sie werden, desto schwieriger wird, es die Sprache zu lernen. Verantwortung für Kinder erschwert das zusätzlich. Für Deutsche alltägliche Dinge, wie der Besuch beim Frauenarzt, sind ungewohnt.”
Nies sagt auch: „Die Frauen, die allein nach Deutschland gekommen sind, werden missbraucht. Sie haben sich durchgeschlagen auf ihrer Flucht mit ganz niedrigen Arbeiten für ganz wenig Geld.“ Manchmal auch für Geschlechtsverkehr gegen Essen. Für sie gibt es in Deutschland zum Glück Angebote, wie Opferhilfe und Frauennotruf. Aber nicht alle wissen davon. Einmal musste Nies auch schon die Polizei einschalten.
Nawar Jacob muss gerade viel lernen. Sie will so schnell wie möglich B2 erreichen. Und sie will arbeiten, am liebsten in ihrem Beruf als Bauingenieurin. Sie wünscht sich eine Zukunft in Deutschland, macht sich aber auch Sorgen … denn ein Teil von ihr ist immer noch in Damaskus bei ihrer Familie.
Dieser Bericht ist durch Teilnehmer unseres Projekt Schreib-Tandem entstanden.
Lisa Kuner hat mit diesem Artikel geschrieben.
Bemerkung:
¹Die Nachnamen der genannten Personen werden auf Wunsch der Personen nicht veröffentlicht.