Warum sie nach so vielen Jahren in Deutschland ihr starkes österreichisches Vokabular und den so typischen Akzent beibehält, wollte jemand wissen. Dabei lag ihr Geburtsort Tausende von Kilometern von Österreich entfernt. Teheran, eine Stadt, die sie nur in alten Bildern der iranischen Eltern ab und zu mal sieht. Sie beherrscht nicht die Sprache, da sie als Kleinkind zusammen mit der Familie nach Salzburg ging. Sie wird im Schlaf manchmal überrascht, wenn unscharfe Bilder wie in einer endlosen Schleife ihre Träume beleben. Es sind unscharfe Gemälde, wie auf den alten Fotos. Sie fragt sich, ob das die Erinnerungen sind, die eine echte Heimat erklären.
Heimat braucht keine Definition
Vor längerer Zeit hat sie einen eher aufwühlenden Artikel gelesen: Heimat ist ein Gefühl. Ava erinnert sich an den Text: „Heimat braucht keine Definition, weil sie kein Begriff ist: sie ist ein Gefühl“, heißt es dort. Und: „Heimat ist schwarz-weiß, und sie ist grau aber sie ist nicht dieses Grau, das aus der Mischung von Schwarz und Weiß entsteht. […] Das Grau ist das der Beton-Hochhäuser, ein Symbolbild der inhumanen Städteplanung im Osten. Um die Bedeutung dieser Bilder weiß ich, aber ich fühle sie nicht. Heimat ist Gefühl, […] es ist privat wie intim, individuell ist es auch. Es hat eine Farbe und einen Geruch, es hat Bilder, die keines Retro-Filters bedürfen.“
Ava denkt nach: Mein österreichisches Deutsch gibt mir genau dieses Gefühl. Diese Sprache gehört mir. Die Worte geben sich mir hin. Wenn sie es nicht tun, so zwinge ich sie. Manchmal verzweifle ich an ihnen. Ich will sie anders aussprechen oder ganz weglassen und dafür ein echtes deutsches Wort mein eigen nennen. Ich schaffe es aber nicht, weil unsere Beziehung viel zu stark ist. Sie ist meine Heimat, bestimmt. Sie macht zumindest einen großen Teil davon aus.
Ist ihre Heimat ein Haus, ein Ort, ein Land?
Ava hat während des Studiums eine Reise durch den Iran gemacht. In Teheran sah sie manchmal Häuser und Menschen, die ihre Bilder aus der Kindheit wieder ins Leben brachten. Aber ihre Art zu denken, war den Iranern fremd. Sie dachte, diese Ambivalenz ist es, was Menschen auf Reisen schickt, denen man nachsagt, jemand begebe sich zu seinen Wurzeln.
Ava weiß nicht, ob man das kann: Wurzeln verpflanzen. Sie erkennt ihre Fragen wieder in dem Beitrag, den sie gelesen hat: „Ist Heimat ein Haus, ein Ort, ein Land? Hat Heimat somit auch Grenzen, die wer? jemand anders? gezogen hat? Ist Heimat da, wo alle Menschen die humorvollen Feinheiten meiner Sprache verstehen, ist Heimat da, wo ein Lied das Herz zur Rührung bringt?“ Ein Lied, das nur dort die volle Bedeutung erreicht, überlegt Ava. Sie empfindet ein heimatliches Gefühl, wenn ihre Erinnerungen das Jetzt in Deutschland überlagern.
Der Text, den Ava gelesen hat, stellt weitere Fragen – Avas Fragen: „Ist Heimat, […] wo die wichtigsten Menschen sind? Ist all diesen Dimensionen die Geborgenheit – die der Familie, der Freunde, der Sprache, der Gerüche […], der Witze und Höflichkeitsfloskeln – immanent? Lässt sich diese Geborgenheit – wenn sie denn das verbindende Element sein sollte – regional begrenzen, einordnen oder definieren?“
Ava weiß, dass wir in schwierigen Zeiten leben, nicht nur in Europa. Zeiten, wo Heimat für viele zu einer wird, die gegen andere Heimaten kämpft. Oder eine, die von Fremden nicht betreten werden darf. Das ist mein Land, schreien die Menschen. Und am Ende des Textes liest Ava: „Heimat wird zum Kampfbegriff, zu einer dunklen Stimmung, zu einer gegen andere gerichteten Kraft. Sie hat alles Kindliche und das Gefühl der Unschuld verloren.“
Ava wünscht sich, niemals von ihrer vertrauten und friedlichen Heimat Abschied nehmen zu müssen.
Anmerkung: Ava ist eine fiktive Person.
Zitate des Beitrags aus: Zeit online. Lena Gorelik: Heimat ist ein Gefühl, erschienen am 31.05.2017, aufgerufen am 23.07.2018