Wohnheim als kleines Universum
Ein Zuständiger für die Studierenden-Wohnheime hatte dann Erbarmen und hat mich außer der Reihe – ich stand eigentlich auf der Warteliste bei Nummer 172 oder so – in eine 6er-WG gesteckt. Das war ein großer Glücksmoment für mich. In diesem Wohnheim habe ich fünf Jahre gelebt. Es war wie ein kleines Universum für sich, und mit den aus aller Welt hier zusammen gekommenen Bewohner*innen (es gab nicht viele Deutsche) war ich sehr glücklich.
Das Bremer Sozialamt hat mich dann auf das Begrüßungsgeld aufmerksam gemacht, allerdings behauptet, es sei dafür nicht zuständig (was eine Lüge war – allerdings eine, die der Stadt Kosten ersparte). Ich müsse dafür nach Gießen ins Auffanglager. Nun stand gerade täglich in allen Zeitungen, dass die Auffanglager von Geflüchteten überquollen. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, Kleider zu spenden und Schlafplätze zur Verfügung zu stellen. In dieser Situation habe ich mich also auf den Weg nach Gießen gemacht. Dort angekommen, stellte ich mich sofort in die riesige Schlange. Bis zum Abend kam ich nicht mal bis zur Anmeldung. Mit dem allerletzten Bus des Tages wurde ich dann bis ins Sauerland gebracht, wo ich mit einem Dutzend anderer Geflüchteter in einem Wochenendhäuschen übernachten sollte. Es gehörte einem Ehepaar, dass sein Geld mit Pferde-Tourismus verdiente und vom Staat eine satte Prämie für seine Bereitschaft kassiert hatte, uns aufzunehmen.
Ich habe die Nacht reichlich unbequem in einem viel zu kleinen Kinderbett verbracht. Beim Frühstück war das Ehepaar dann neugierig auf Schreckensberichte aus der DDR, stellte seine humanitäre Grundgesinnung zur Schau, war aber nicht bereit, eine Frau mit ihrer Familie telefonieren zu lassen – das würde 23 Pfennige pro Einheit kosten. Die Frau hatte kein Geld. Also haben die anderen frisch Geflüchteten ihre Pfennige zusammengekratzt.
Schlangen im Behördendschungel
So funktioniert ein großer Teil der sogenannten Hilfen leider immer wieder: Vor allem die wohlhabendere Seite verdient daran, bei den Hilfeempfänger*innen selbst kommt nur der allergeringste Teil wirklich an.
Dann ging es im Bus wieder über eine Stunde zurück nach Gießen. Wir mussten wieder Schlange stehen. Insgesamt war ich, glaube ich, vier Tage da. Alle wurden einzeln befragt, ich auch: Wo und wie lange ich zur Schule gegangen sei. Ob ich eine militärische Ausbildung bekommen hätte. Wo das gewesen sei. Ob ich mich an den Ort und die Besetzung dort erinnern könne… Alles wurde in ein Protokoll aufgenommen. Diese Protokolle stehen der Öffentlichkeit wahrscheinlich nicht zur Verfügung wie heutzutage die alten Stasi-Protokolle… Irgendwann habe ich dann endlich diese 200 Mark Begrüßungsgeld bekommen. Davon waren schon mal fast 100 Mark weg für die Anreise. Ein Mann dort im Auffanglager hat mich dann darüber aufgeklärt, dass mir das Bremer Sozialamt auch ein kostenloses Ticket hätte ausstellen können. Und überhaupt, das Begrüßungsgeld hätte ich auch dort holen können.
Zurück in Bremen wollte ich zum Monatsbeginn mein Sozialgeld abholen, nun wirklich fette 320 D-Mark. Leider habe ich davon nur 120 Mark ausgezahlt bekommen. Die 200 Mark Begrüßungsgeld hatten sie mir als monatliches Einkommen von der Summe abgezogen. Durch Zufall spuckte mein Gehirn das Wort „Widerspruch“ aus: Es war das passende Schlüsselwort zu meinem Recht. So habe ich Monate später die fehlende Summe tatsächlich nachgezahlt bekommen. Für den Moment war es allerdings eine große Misere. Ich hatte mir Geld geborgt und mich verschuldet. Ich hatte kein Geld für Straßenbahntickets und wollte das teure Risiko des Schwarzfahrens nicht eingehen. Dann starb zu allem Unglück auch noch mein Opa, und ich konnte nicht einmal zur Beerdigung fahren…
Letztlich dauerte das alles nur zwei oder drei Monate. Dann ging es bei mir schon wieder bergauf. Aber diese kurze Zeit hat mich sehr stark geprägt. Ich werde sie nie vergessen. Und wie viele Menschen müssen das jahrelang ertragen!
Auch der Weg an die Uni war steinig. Trotz meiner Studiennachweise wurde mein Studium nicht anerkannt. Ich hätte alle Prüfungen neu machen müssen. Nach der Grenzöffnung wurde das übrigens geändert: Man wollte ja nicht Tausende Akademiker*innen, die man sofort gut brauchen konnte, zuerst neu prüfen müssen!
Die Mauer fällt
Da ich mein Fach sowieso nur aus Not gewählt hatte, wechselte ich. Ich wollte endlich etwas studieren, das mich wirklich interessierte. Aber auch das ging nicht. Trotz meiner Studiennachweise wurde noch nicht einmal mein Abitur anerkannt. Ein klassisches Flüchtlingsproblem. Sie haben mir gesagt: Für einen Studienplatzwechsel brauchen wir ihr Abiturzeugnis. Okay, habe ich gesagt, ich bin gerade geflüchtet und habe mein Abiturzeugnis nicht eingepackt. Das wäre ein bisschen auffällig gewesen! Und habe meinen Studiennachweis vorgezeigt. Ich hatte eine Naturwissenschaft fast fertig studiert. Es war offensichtlich, dass man auch in der DDR dafür ein Abitur brauchte. Aber sie, so typisch Amt: Das verstehen wir, aber wir brauchen Ihr Abiturzeugnis im Original. Keine Chance. Mir blieb nichts übrig, als ihnen etwas auszuhändigen, das sie für ein Original hielten.
Dann schoben sich Sozialamt und BafÖG-Amt gegenseitig die Verantwortung für mich zu. Schon wieder drohte mir die Streichung der finanziellen Leistungen. Meine einzige Chance war, nachzuweisen, dass ich mein erstes Studium aus psychischen Gründen nicht fortführen könnte. Gleichzeitig musste ich ja aber nachweisen, dass ich für das andere Studium sehr wohl die Fähigkeiten hatte! Mit Glück und der Hilfe eines freundlichen Psychologen gelang mir diesen seltsame Nachweis dann doch. Nun durfte ich endlich wieder studieren.
Zu dieser Zeit fiel auch die Mauer. Ich habe mir einmal die Montagsdemonstrationen im Fernsehen angeschaut und vor Rührung geweint. Beim zweiten Mal habe ich nur noch diese nationalistischen Parolen wahrgenommen: Deutschland! Deutschland!
Wie auf einer anderen Eisscholle unterwegs
Auch als ich über Weihnachten das erste Mal wieder zu Hause war, hat mich eine große Kraftlosigkeit überfallen. Alles war scheinbar wie immer, und doch war alles so anders! Ich war jemand anderes geworden. Meine Familie hatte eine Menge mit mir durchgemacht. Auf einer Party habe ich meine Freund*innen wiedergetroffen. Alle haben sich gefreut, mich zu sehen, eben so wie sonst auch immer. Aber was für sie eine Fortsetzung war, war für mich schlicht ein Filmriss. Was in den letzten Monaten mit mir passiert war, würde ich erst später, Stück für Stück, mit ihnen teilen können: Momentan war ich wie auf einer anderen Eisscholle unterwegs. Alleine. Für mich war es, als würden plötzlich die Toten wieder zum Leben erweckt. Wie sollte ich ihnen dieses Gefühl der höchsten Ergriffenheit erklären? Ich war wie gelähmt. Irgendwann habe ich mich in ein Hinterzimmer verzogen und alles rausgeheult.
Ob es Parallelen zu den Geschichten der jetzigen Flüchtlinge in Deutschland gibt? Sicherlich. Aber im Vergleich zu den meisten hatte ich so viele Vorteile: Ich kam nicht aus einem Kriegsgebiet. Ich hatte keinen Hunger, kein Elend erlitten. Ich kam mit einer guten Bildung hier an und hatte viele wunderbare Erfahrungen schon im Gepäck. Meine Flucht ging schnell, ohne die üblichen Erniedrigungen, unmenschlichen Behandlungen, ohne ständige Lebensgefahr. Ich sprach von Anfang an Deutsch, habe sofort deutsche Papiere und alle damit verbundenen Rechte bekommen, war ähnlichen Kultur aufgewachsen. Trotzdem war ich fremd, kannte viele Regeln genau so wenig wie meine Rechte und war nicht da, wo ich eigentlich sein wollte.
Wirklich zuhören und hinschauen
Ob es heutzutage besser ist mit der Hilfe für Flüchtlinge? Ich weiß nicht. Auch damals gab es viele, die helfen wollten. Die politischen Motive waren oft anders. Damals bin ich vor allem auf Ablehnung von links gestoßen – von der Szene, der ich mich später aus guten Gründen angeschlossen habe. Sie befürchtete, völlig zu Recht, mit einer Wiedervereinigung Deutschlands würde auch ein neuer Rechtsruck einhergehen. Manche haben mir auch direkt den Vorwurf ins Gesicht geschleudert, ich sei aus dem besseren System geflüchtet. Es hat eine ganze Weile und vor allem Menschen gebraucht, die bereit waren, mich und meine Erfahrungen ernst zu nehmen.
Auch heute hören nur wenige den Geflüchteten wirklich zu. Nur wenige schauen wirklich hin und sind bereit, in einem geflüchteten Menschen erstmal einfach einen Menschen zu sehen, dem dieselben Rechte zustehen. Und zu fragen, was die einzelnen Geflüchteten gerade wirklich brauchen. Ihre Antworten darauf zu akzeptieren. Und vor allem: auch von ihnen Hilfe anzunehmen. Ich habe damals solche Menschen gefunden. Und das wünsche ich auch allen denjenigen, die momentan auf dem Weg in diese Gesellschaft sind.
*Name von der Redaktion geändert.
1 Luis Corvalán Lépe war ein chilenischer Politiker und Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chiles, bekam nach dem Putsch Asyl in der Sowjetunion.
2 Josef Stalin war ein sowjetischer Politiker georgischer Herkunft und Diktator der Sowjetunion von 1927 bis 1953.
3 Perestroika bezeichnet den von Michail Gorbatschow ab Anfang 1986 eingeleiteten Prozess zum Umbau und zur Modernisierung des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Systems der Sowjetunion.
4 Michail Gorbatschow ist ein russischer Politiker. Er war von März 1985 bis August 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und von März 1990 bis Dezember 1991 Staatspräsident der Sowjetunion.
5 Die Kommunalwahlen in der DDR fanden am 7. Mai 1989 statt. Es war die letzte Wahl in der DDR, die nach Einheitslisten der Nationalen Front stattfand, das heißt, es gab nur einen Wahlzettel mit einem Parteienbündnis darauf, den man (unter Aufsicht der Wahlhelfer*innen) in den Schlitz werfen konnte. Das Ergebnis war mit 98,85% das schlechteste in der DDR. Außerdem konnten oppositionelle Gruppen erstmalig Wahlfälschung nachweisen. Am 7. jedes Monats gab es seitdem regelmäßig Demonstrationen gegen den Wahlbetrug.
6 Bis August 1989 lieferte Ungarn gefasste Fluchtwillige grundsätzlich an die DDR aus.
7 Kraxe: ein Tragegestellrucksack
8 Mehrere Hundert DDR-Bürger nutzten am 19. August 1989 das „Paneuropa-Picknick“ bei Sopron als Gelegenheit zur Flucht.