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Unterm Gepäck durch die Nacht. Eine deutsch-deutsche Fluchtgeschichte

Die Flucht von Connie M* im Jahr 1989 führte nicht übers Mittelmeer, sondern von der DDR in die BRD. Ihre Erinnerungen spannen einen weiten Bogen: Von den ersten Plänen bis zu dem Gefühl, wirklich angekommen zu sein im Westen, vergehen Jahre. Ein langer Text voller Spannung, Hoffnung, Enttäuschung - und eine Ermutigung für alle, die sich noch auf dem Weg in diese Gesellschaft befinden.

Unterm Gepäck durch die Nacht. Eine deutsch-deutsche Fluchtgeschichte

Hoffnung und Resignation

In Dresden, wo ich ab 1987 studiert habe, gab es eine relativ große Gruppe von jungen Leuten, die Ausreiseanträge gestellt hatten und sehr DDR-kritisch waren. Manche der Kritiken teilte ich, manche nicht. Auf jeden Fall stellte sich jetzt auch mir die Frage, ob ich bleiben möchte oder gehen. Ich habe mit dieser Frage lange gerungen. Ich wollte – wie es den meisten Menschen in solchen Situationen geht – eigentlich nicht weg. Hier war ja mein Zuhause. Und aus Trotz. Ich wollte das hier ändern und nicht einfach den Schwanz einziehen. Immerhin war mittlerweile die Zeit der Perestroika3 in der Sowjetunion angebrochen. Sie hatte eine unwahrscheinliche Strahlkraft. Plötzlich bewegte sich das Unbewegliche, das machte so viel Hoffnung!

Dann aber hat sich die bisher so sowjetunionstreue politische Führung in der DDR klar von der Perestroika abgewandt. Sie hat sich nicht Gorbatschow4 angeschlossen. Die Schrauben wurden enger gezogen; alles sollte so bleiben, wie es war.

Ungarn will seine Grenzen öffnen

Mein Entschluss, aus der DDR zu fliehen, stand ab 1988 fest. Und das, obwohl es mittlerweile deutliche Veränderungen gab: die Ausweitung des Besuchsrechts bei Verwandten in der BRD, die plötzliche Diskussionsfreudigkeit einiger Mitstudent*innen, die Rosa-Luxemburg-Demo in Berlin und danach immer wieder Demonstrationen im Land trotz der großen Angst vor den Repressalien, eine beginnende kritische Ökoszene, die etwa das Waldsterben im Erzgebirge oder den Zustand der Flüsse beobachtete und anprangerte, die Aktivitäten der oppositionellen Gruppen bei den Wahlen 19895

Im Mai 1989 stand dann in der Zeitung, dass Ungarn seine Grenzen nach Österreich öffnen will. Meine Eltern, die ich in meine Fluchtpläne eingeweiht hatte, haben sich mit mir zusammengesetzt und wir haben beratschlagt, was daraus für mich folgen würde. Es gab in unseren Augen nur zwei Optionen: Entweder würden schlagartig so viele Menschen diese Chance nutzen, um – und sei es nur aus Neugier – den Eisernen Vorhang zu durchschreiten, dass die DDR in sich zusammenfallen würde wie ein Kartenhaus.

Um ein Vielfaches wahrscheinlicher aber war, dass wir für Ungarn ab sofort kein Visum mehr bekommen würden. Auch dann würde die DDR, schon rein aus ökonomischen Gründen, irgendwann zusammenbrechen. Aber das würde sich vielleicht auch noch 20 Jahre hinziehen – 20 Jahre, in denen die in die Enge getriebene politische Riege um so repressiver vorgehen würde. Dann würde ich 42 Jahre alt sein, in meine Augen quasi schon tot! So lange wollte ich nicht warten.

Hart wie Stein

Ich musste also versuchen, über diese ungarisch-österreichische Grenze zu kommen. Auch wenn ich wusste: Wenn ich dabei erwischt würde, würde ich in den Knast kommen.6 Ich habe versucht, mich darauf vorzubereiten, dass ich im Knast vielleicht mit einer Kriminellen in einer Zelle sitzen würde, die für ein paar kleine Privilegien bereit wäre, mich zusätzlich zu schikanieren. Darauf, dass man mir die schönen langen Haare zur Glatze scheren würde. Und das alles für mehrere Jahre. Ich habe versucht, mich zu einem Stein zu machen. Ich war nie in meinem Leben härter als damals, mit 22.

Noch im Monat der neuen Nachrichten aus Ungarn, im Mai 89, habe ich in Berlin Freund*innen aus dem Westen getroffen. Ich habe sie gefragt, ob sie dieses Jahr einen Urlaub in Ungarn machen könnten und mich mit rüber nehmen würden? Die waren genauso jung wie ich, teils sogar jünger. Das muss man sich mal vorstellen! Die Bedenkzeit war vielleicht eine Viertelstunde, dann haben sie „Ja“ gesagt. Wir haben Zeit und Ort verabredet und noch, was wir tun würden, wenn einer von uns nicht zu dieser Zeit dort wäre. Das war’s.

Brief-Geschichten

Ich war zu dieser Zeit schon fast fertig mit dem Studium. Meinen Studiumsnachweis habe ich ihnen gleich mitgegeben. Er würde für meinen Neustart wichtig sein. Und ich wollte nicht mit diesen Papieren die Grenzen passieren müssen. Weil sie mich jedes Jahr, in jedem Sommerurlaub, an der Grenze gefilzt haben. Sogar den Kugelschreiber haben sie mir auseinander genommen und mich verdächtigt, er könne eine Waffe sein.

Die nächste Frage war: Wie schaffe ich es abzuhauen, ohne dass meine Eltern dafür allzu sehr bestraft würden? Dass mein Vater für mich auf seine leitende Position verzichtet hat, habe ich erst sehr spät verstanden. Der Plan war ein Brief, in dem ich behaupten würde, ich hätte mich im Urlaub in einen Wessi verliebt und würde nur deswegen, aus übergroßer Liebe und trotz meiner moralischen Bedenken, mein Heimatland verlassen. Diesen Brief würde ich an einem verabredeten Tag abschicken. Am gleichen Tag sollte ein Freund meine echten Abschiedsbriefe an die anderen Freund*innen abschicken, so dass sie bereits angekommen wären, bevor die Stasi alle meine Briefe abfangen würde.

Große Liebe und zerrissenes Herz

Das hat wunderbar geklappt. Meine Mutter konnte sich vor Gericht bei dem Vorwurf, sie hätte mich wohl falsch erzogen, sonst wäre ihre Tochter ja wohl nicht republikflüchtig geworden, auf das Argument der großen Liebe zurückziehen. Und selbst die Stasi soll sich bedankt haben, weil der Brief sowohl mit Datum als auch mit einer (fiktiven) Adresse versehen war – das erleichtere die Aktenablage so ungemein!

Aber zurück zu meiner Flucht. Ich saß im Zug und hatte ein Fahrrad mit und einen Rucksack, wie immer. Der Beamte fragte mich wie immer: Fahren sie alleine? Ich sagte wie immer: Ja. Und er: Na dann, gute Fahrt! Das war ja die Höhe! Ich hatte extra nichts, wirklich absolut nichts eingepackt, was mich verdächtig machen könnte: Kein einziges Foto meiner Lieben, kein Souvenir, nichts! Und dann keine Kontrolle! Und warum ausgerechnet in diesem Jahr: Konnte er sich etwa denken, was ich vorhatte?

In Ungarn habe ich dann mein Fahrrad, meinen geliebten „Wolfgang“, stehen lassen, unabgeschlossen natürlich. Ich habe mich mit meinen Freund*innen am verabredeten Ort getroffen. Einer meiner engsten Freunde war dabei. Es war unser Abschied, vielleicht für immer. Die anderen Lieben hatte ich in den Wochen davor schon in meinem Herzen zu Grabe getragen. Es war herzzerreißend.

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Genia ist freie Künstlerin und für Bilder und Illustrationen bei kohero verantwortlich. „Ich liebe meine kulinarische Ecke und bin ständig auf der Suche nach verrücktesten Rezepten für Euch.“

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