Ausbildung und Auslandserfahrungen
Ich habe Performance Art in Brasilien studiert, hatte ein Stipendiat und habe dort an der staatlichen Universität für Tanz und Theater meinen Master gemacht mit dem Schwerpunkt zeitgenössische Tanzrituale. In Brasilien habe ich mich immer zuhause gefühlt, mit all den verschiedenen Identitäten. Brasilien ist in einem dauerhaften Identitätsfindungsprozess, denn es gibt in dem Land die verschiedensten Einflüsse. Von Indianern über Arabern, Afrikanern und Europäern sind hier alle Ethnien vertreten.
Ich habe in dem Teil von Brasilien gelebt und gearbeitet, in dem ungefähr 80 Prozent der Bevölkerung schwarz ist. Auch sie suchen – genau wie ich – ihre Wurzeln. Ich hatte immer große Schwierigkeiten mit diesem nur „Deutschsein“, habe schon immer nach den verschiedenen Seiten von Kulturen gesucht, einfach um mich ganz ausleben zu können. Insgesamt habe ich sieben Jahre in Brasilien verbracht. Und ich habe zwei Jahre im Senegal gelebt, um eben die westafrikanischen Tänze zu studieren. Dann war ich ein Jahr in New York, Havanna und später in Paris. In Paris habe ich auch meinen senegalesischen Tänzer, Musiker, Mann und Vater meiner Tochter getroffen.
Zusätzlich zu diesem Master habe ich auch eine Therapieausbildung absolviert. Im Anschluss beschäftigte ich mich sechs Jahre intensiv mit dem Thema Selbsterfahrung und habe der Frage, wer ich bin, mit einem kreativen, humanistischen Ansatz nachgespürt. Ich habe also auch einen Abschluss als Gestalttherapeutin.
Am Richard-Strauss-Konservatorium in München war ich zehn Jahre lang festangestellt. Arbeitsschwerpunkt waren kreative Tänze. Tanzimprovisation war schon immer meins, hier kann ich die verschiedenen Einflüsse miteinbeziehen. Doch ich hatte schon immer so eine Sehnsucht in mir. Ich habe gemerkt, dass wenn ich woanders, also im Ausland bin, in einer anderen Kultur mit einer anderen Sprache, dass ich dann noch mehr Anteile meiner Persönlichkeit ausleben kann. Und gerade in Afrika wird man so angenommen wie man ist, ich habe mich in dieser Kultur sehr willkommen gefühlt.
Zuhause auf der ganzen Welt
Ich habe also überall Wurzeln, fühle mich überall zuhause. In all diesen unterschiedlichen Kulturen kommen Anteile in mir zum Leuchten, die eben nur in diesem einem, speziellen Land hervorkommen, woanders aber nicht. In Afrika also erlebe und spüre ich mich ganz anders als beispielsweise in Brasilien. Und es geht immer auch um die Menschen und die Beziehungen, um den Humor, um die Sprache, um all diese kleinen Eigenheiten. Ich erlebe diese Aspekte sehr stark über meinen Körper. Wenn ich Capoeira mache, bin ich in einem anderen Swing als wenn ich den Sabar aus Senegal tanze.
Diesen Reichtum finde ich wahnsinnig toll. Es geht immer darum, die verschiedenen Identitäten zu vereinen. Dafür ist das Tanzen ein super Mittel. Ich versuche immer, meine unterschiedlichen Identitäten gleichberechtigt zu leben, lasse sie miteinander kommunizieren. Es ist auch von großer Bedeutung, dass sie einander kennenlernen, sich begegnen. Denn alle Persönlichkeiten sind da, wollen gesehen werden. Diese Herangehensweise ermöglicht es mir, in mir zu ruhen und mich auf der ganzen Welt zuhause zu fühlen.
Der Verein Tanz der Kulturen e.V. und die Bangoura Group
Anfang 2018 habe ich meinen Verein Tanz der Kulturen gegründet. Wir machen viele Projekte mit verschiedenen Kooperationspartnern, zum Beispiel mit Fördern und Wohnen oder auch mit Political Bodies auf Kampnagel hier in Hamburg. In Frankfurt arbeiten wir mit dem Träger ÜberBrücken zusammen, er hat sich auf künstlerische Integrationsprojekte mit Geflüchteten spezialisiert.
Teil des Vereins ist die Bangoura Group. Diese Musikgruppe verbindet Tanztheater mit Life Musik. Dabei gehen wir in den Dialog mit dem Publikum, beziehen es in unsere Performance mit ein. Wir spielen traditionell afrikanische Instrumente. Diese sind sehr komplex und es gibt auch nur wenige Menschen, die diese Instrumente überhaupt richtig beherrschen. Wir haben da zum Beispiel das Balafon, eine Art afrikanisches Xylophon, welches sehr erdig klingt. In Norddeutschland gibt es nur einen einzigen, wirklich guten Balafonisten.
Dann haben wir noch die Kora, ein afrikanisches Seiteninstrument. Die Kora wird oft für Solo-Einsätze genutzt, unsere Band hat es jedoch in die musikalischen Stücke integriert. Ansonsten legen wir viel Wert darauf, dass unsere Musik nicht zu trommel-lastig wird und, dass wir viel mit Melodien arbeiten, was ja eher den europäischen Hörgewohnheiten entspricht.
Ergänzt wird unsere Musik durch eine Jazzsängerin. Uns ist auch wichtig, nicht nur auf afrikanisch zu singen, weil unser Publikum dies nicht verstehen würde. Also arbeiten wir mit englischem, französischem oder eben deutschem Gesang. Wir bieten eine Mischung aus verschiedenen Sprachen an, um den universellen Charakter zu unterstreichen.
Und Improvisation steht bei uns ganz vorne. Gegründet wurde die Bangoura Group 2015, bei uns finden sich Musiker aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen. Wir bringen Fusion Musik auf die Bühne, was oft nicht einfach ist, denn dies fordert immer auch eine menschliche „Fusion“, bei der die Kommunikation, vor allem die verbale, sehr wichtig ist. Wie kann diese „Fusion“ also letztendlich funktionieren? Ich habe mir Hilfe von einem brasilianischen, international renommierten Musik-Arrangeur geholt, der sein Leben lang nichts anderes gemacht hat. Er arbeitet auch mit Menschen, die keine Noten lesen können. Und wir setzen auf Rituale.
Der Einsatz von Ritualen
Ich beziehe mich bei meiner Arbeit immer wieder auf den rituellen Aspekt. Der Übergang von deinem Zuhause beispielsweise zur Arbeit oder – in meinem Fall – zur Tanzstunde, ergibt eine Identitätsverschiebung. Zum einem bist du privat in deinen eigenen vier Wänden, dann ziehst du deine Tanzsachen an und bist jetzt Tänzerin. Das zu vollziehen, diese Erkenntnis, dass der Alltag nun abgelegt wird und wir uns in eine neue Identität begeben, ist Teil des Rituals. Hier bemühe ich mich immer um eine Verlangsamung und um ein bewusstes Spüren dieser Transformation.
Die drei Phasen des Rituals sind die Separation vom Alltag, das Erleben einer Reise und die Integration wieder zurück in den Alltag. Dies bewusst zu gestalten, besonders im Tanzen und in der Musik, darum geht es mir. Die Bewusstseinsbildung steht im Fokus, aber es geht immer auch um Gemeinschaftsbildung. Was dies konkret bedeutet, das konnte ich viel und intensiv in den afrikanischen Kulturen lernen. Die Musik, das Tanzen sind ein ständiger Dialog. Es geht auch um das Hören: Einander zuzuhören, aber auch gehört zu werden, um Wahrnehmung. All das sind Grundbedürfnisse des Menschen.
Perspektiven finden
Und wir bieten Workshops an, gerade für geflüchtete Kinder und Jugendliche. Hierbei geht es vor allem darum, Aggressionen abzubauen beziehungsweise sie kreativ zu transformieren. Dies geschieht durch Tanzen und Musik, besonders die Trommel ist hierfür sehr geeignet. Ich bin der Meinung, dass die afrikanische Kultur ein optimales Ventil zum Abbau von Aggressionen bietet. Wir holen die Kids aus den Flüchtlingsunterkünften. Es ist nicht gut, wenn sie den ganzen Tag nur drinnen vor dem Fernseher hocken.
Menschen brauchen einfach mehr als nur ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Es ist eine unserer Aufgabe, die Kinder einzuladen, etwas zu tun. Darüber müssen wir uns ernsthafte Gedanken machen, denn sonst kreieren wir die nächsten Katastrophen. Die Jugendlichen können abrutschen in Drogen, Arbeitslosigkeit und Hartz IV. Sie brauchen dieses Gesehenwerden, die Wertschätzung und den Aufbau stabiler Beziehungen. Doch leider ist der bürokratische Aufwand hier ein Problem.
Um ein fünftägiges Projekt durchzuführen, bedarf es eines immensen Arbeitsaufwands, besonders um die nötigen Gelder zu generieren und es dauert oft Monate, bis so ein Projekt überhaupt bewilligt wird. Wir brauchen diese Bürokratie nicht, sie ist unnötig. Was wir brauchen, sind Sozialpädagogen; die Künstler brauchen eine pädagogische Ausbildung. Alternativ kann man natürlich in Tandems zusammenarbeiten, also ein Künstler und ein Pädagoge tun sich zusammen, gehen in den nötigen, fachlichen Dialog, nehmen sich Zeit für Teamsitzungen, arbeiten einheitlich. Da wird jedoch bei Ausschreibungen viel zu wenig drauf geachtet.
Integration durch Musik
Das Wort Integration hat für mich verschiedene Bedeutungen. Einmal gibt es die kulturelle Integration. Ich möchte diesen Begriff jedoch weiterfassen. Und zwar möchte ich auf die Integration unserer verschiedenen inneren Persönlichkeiten eingehen. Dazu gehören auch unsere Schattenseiten, eben die Seiten, die wir nicht so gerne ansehen oder auch zeigen. Wir reagieren dann mit Ablenkungen, mit Konsum oder auch mit Medikamenten wie beispielsweise Antidepressiva, einfach um nicht die aggressive oder die phlegmatische Seite zu zeigen.
Ich verstehe Tanzarbeit als Integrationsarbeit. Diese ganze Bandbreite an verschiedenen Gefühlen, die wir nun mal haben, einzubeziehen, das ist, womit ich arbeite. Auch die destruktiven, traumatischen Gefühle dürfen sein, dürfen sich ausdrücken. Es ist jedoch leider kulturell bedingt, dass solche Gefühle eher unterdrückt und verdrängt werden. Dadurch entstehen Krankheiten. Tanzen, Kunst und Musik bieten eine hervorragende Möglichkeit, diese Emotionen zuzulassen. Bei mir wird viel geweint und geschrien, unpopuläre Gefühle wie Wut, Trauer, Angst, Scham und Unsicherheit bekommen einen Raum, dürfen ausgelebt werden.
Wir leben ja leider in einer Scham-, Sünde- und Schuld-Gesellschaft, geprägt durch unser christliches Weltbild. Im Tanz können wir uns behutsam zeigen, alles darf sein, eben auch die negativen Gefühle. Und alles geschieht freiwillig, ohne Druck. Am Ende einer jeden Session nehme ich mir viel Zeit für eine Abschlussrunde, wir tauschen uns über das Erlebte aus, teilen unsere Erfahrungen. Wir schauen, wo es Gemeinsamkeiten gibt, betrachten aber auch die Unterschiede.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten erleben
Das ist für mich auch Integration: Die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten in diesem persönlichen, tiefen Aspekt zu erleben. Denn je tiefer wir in die Persönlichkeit gehen, desto mehr Gemeinsamkeiten gibt es. Die Unterschiede sind oft nur oberflächlich. Wenn wir tiefer gehen, dann geht es immer um Anerkennung, um Wertschätzung und um Liebe. All diese Dinge kann man wunderbar mit Musik und Tanz verinnerlichen.
Integration verläuft auf verschiedenen Ebenen, denn als Mystikerin weiß ich, dass innere Prozesse sich direkt im Äußeren wiederspiegeln. Afrikanischer Tanz basiert auf Mythen. Im Tanzen haben wir die Möglichkeit, unsere verschiedenen Persönlichkeitsanteile, also zum Beispiel die Kämpferin in uns oder auch die Faulenzerin, die Verführerin und Närrin in uns auszuleben und dadurch zu integrieren. Integrieren heißt auch gesehen zu werden, sich kreativ ausdrücken und sich wertzuschätzen. Im Dialog mit dem Gegenüber findet Veränderung statt.
Alles was sich zeigen darf, kann sich verändern. Tanzen im Ritual, so wie ich es verstehe, gibt uns diese Möglichkeit. Wir Menschen sind Unlust-Vermeider, jeder hat einen inneren Flüchtling. Wir brauchen den Halt der Gemeinschaft, um uns mit unseren unbequemen, unpopulären und schmerzhaften Realitäten zu konfrontieren.
Warum ausgerechnet der afrikanische Tanz?
Ich habe mir selber schon oft die Frage gestellt, warum ich mich ausgerechnet für die afrikanische Musik und Kultur entschieden habe. Ich komme aus einem kleinen Ort, in dem mir nie ein Afrikaner begegnet ist. Und auch in meiner Familie hat niemand einen Bezug zu Afrika. Aber ich habe schon immer gerne getanzt und damit fing es an. Im klassischen Ballett oder auch im Modern Dance hieß es immer: Naja, Stephanie tanz ja ganz gut und das, obwohl sie dick ist.
Als ich dann bei den Afrikanern meine erste Tanzstunde genommen habe, hieß es plötzlich: Elle danse fort – also: Sie tanzt stark. Und der afrikanische Tanz ist ganz anders, es geht viel um die Sichtbarkeit von Energie im Tanzen an sich, um den Dialog und nicht so sehr um die äußere Form. Und er ist spontan, improvisiert. Eben diese Improvisation ist das Grundelement des afrikanischen Tanzes und nicht die Imitation einer Choreographie.
Kulturelle Grenzen durch Tanzen abbauen
Mit der Musik und dem Tanz beziehe ich mich einmal auf mich selber und einmal auf meine Umwelt. Dadurch kann ich nicht nur mich spüren, sondern auch meinen Gegenüber. Ich trete mit ihm in Kontakt und das über kulturelle Grenzen hinweg. Ich muss nicht seine Sprache sprechen, wir verstehen uns auch so, kommunizieren durch die Musik, durch das Tanzen, durch die Bewegung. Unser Umgang ist respektvoll und wir konzentrieren uns auf unsere Stärken.
Die Tanzausbildung nach der Bangoura Methode
Diese Tanzausbildung findet an sieben Wochenenden statt. Jedes Wochenende widmen wir uns einem Thema. Es geht primär darum, die verschiedenen Anteile in uns zu hören. Mal beschäftigen wir uns mit der Befreiung, mit dem Wilden, dem Ungezähmten in uns. Aber auch mit unserem Stolz. Die verschiedenen Themen habe ich auf der Basis von afrikanischen Mythen entwickelt, sie werden mit der Haltung der Gestalttherapie getanzt und belebt.
Meine Teilnehmer lernen mit Hilfe von Improvisation und eben der Life Musik diese Themen in sich zu bearbeiten, sie zu entdecken und auszudrücken. So können sie diese Aspekte später in ihrer eigenen Gruppe anleiten und umsetzen. Das ist natürlich ein längerer Prozess.
Das Buch zur Ausbildung
Derzeit schreibe ich an einem Lehrbuch für meine Ausbildung. Dieses Buch beschreibt die Grundprinzipien des afrikanischen Tanzes. Es geht intensiv auf die Rituale, die Wiederholung und die Improvisation ein. Und es beschreibt wie diese drei Elemente kreativ durch Tanz und Musik umgesetzt werden können. Der wiederholende Aspekt ist sehr typisch für die afrikanische Musik, würde es diesen nicht geben, dann wäre es keine afrikanische Musik.