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Syrische Identität – was bedeutet das?

Warum ist es so schwer, von einer syrischen Identität zu sprechen? Hussam Al Zaher denkt in diesem Kommentar über die schwierige Suche nach einer syrischen Identität nach und kommt zu dem Schluss: Auf der Basis einer geografischen Zugehörigkeit können neue Perspektiven gefunden werden - für Freiheit und Demokratie.

Syrian Desert, Palmyra, Syria. Foto: USGS on Unsplash

Seit vier Jahr lebe ich in Deutschland und beschäftige mich sehr viel mit deutschen Medien. Meine Frage heute: Was bedeutet deutsche Identität? Hat Deutschland eine Identität? Wer kann die deutsche Identität bestimmen und beschränken? Gehören zur deutschen Identität hamburgische Fische oder ein persischer Leberkäse oder Kölsch oder Altbier? Oder vielleicht sind alle ein Teil der deutschen Identität? 

Am Ende zählen die gleichen Werte in Grundgesetz.  Fast alle Deutschen glauben an das Grundgesetz. Es gibt es keine Unterschiede zwischen Köln und Dresden (obwohl Köln mehr Geld hat als Dresden).

Das demokratische System, das Grundgesetz, europäische Werte (obwohl europäische Werte nur für Europa gelten) und das Christentum sind Teile der deutschen Identität. 

Warum bin ich Syrer?

Zu meiner Frage gehört auch der Gedanke: Warum bin ich Syrer? Was bedeutet meine syrische Identität? Was ist die Verbindung zwischen den Damaszenern und Aleppern? Was ist die Verbindung zwischen mir und den Kurden? Zwischen syrischen Muslimen und Christen? Die alte oder neue syrische Geschichte lässt uns als Syrer keine gemeinsame Identität zu finden.

Syrien war schon immer eine kleine Region, die zu großen Reichen der Römer, Byzantiner, Umayyaden oder Abbasiden gehörte. Obwohl  es zur Schwäche des abbasidischen Staates  führte, wurden mehrere Staaten in Syrien geschaffen. Aber diese Länder waren klein und  kämpften gegeneinander wie in Aleppo oder Damaskus. 

Sogar der Begriff Syrien ist ein alter Begriff. Die Gelehrten sind sich nicht einig, woher dieser Name kam (von den Assyrern oder von den Griechen). Einig sind sie sich nur darin, was Syrien als Begriff bedeutet und dass die Levante in einem weiteren Sinne alle arabischen Länder in der Levante aus Jordanien, Palästina, Libanon und sogar einige Teile des Iraks umfasst. Dazu Sinai, Ägypten, für einige auch Teile Nord-Saudi-Arabiens und Zypern als Teil des Großraums Syrien.

Die syrische Identität fehlte. Genauer gesagt: Aufgrund der Macht der arabischen und islamischen Identität, die die Syrer als Bürger einer großen Nation definiert (diese Nation war in den Tagen der Umayyaden und Abbasiden ein Staat), wurde sie nicht geboren. Ich meine hier die islamische Nation, die viele jener Nationalitäten umfasst, die den arabisch-islamischen Staat unterstützen. Aber diese Verschmelzung hielt nicht lange an. Es entstanden widersprüchliche Nationalitäten unter dieser Herrschaft. Als Land (Nation) konnten sie seit der Entstehung des arabischen Nationaltraums als Reaktion auf den türkischen Nationalismus (als Araber)  am Ende des Osmanischen Reiches nur in den Töchtern unserer Träume geboren werden.

Zwischen Großer Identität und lokalen Identitäten

Hier haben wir als Syrer also zwischen der Großen Identität und der lokalen Identität verloren. 

Die Große Identität ist die arabische oder islamische Identität. Und diese Identitäten können sich nicht als Nation (Land) präsentieren. Obwohl die Syrer von einem großen Land träumen. 

Die lokalen Identitäten sind die der regionalen Stammes-, der religiösen und nationalen Identitäten aufgrund der kulturellen, religiösen, politischen und nationalen Identität einer Bevölkerung. Dazu muss man wissen, dass es in Syrien mehr als 19 verschiedene Sekten und Zugehörigkeiten zu verschiedenen Ethnien gibt,  die in einem  geografischen Gebiet  leben. Vom Kolonialismus  gezeichnet, wurden Karten ohne genaue Kenntnisse dieses Gebiets und der Bewohner dieser Region erstellt.

Viele Syrer singen von der Nacht bis zum Morgen das Lied, dass wir vor dem Krieg zusammengelebt haben. Dabei lebten wir nebeneinander, nicht miteinander. Wir wissen nichts voneinander. Jede Gruppe lebt in einem bestimmten Gebiet. 

Zusammen kommen die Syrer nur in Armee oder an der Uni. Vielleicht begegnen sie sich auch bei der Arbeit in Damaskus (weil fast alle Syrer davon träumen in Damaskus zu leben, nah bei Kultur, Behörden, Macht, Geld, Arbeit, und Medien). 

Das bedeutet: Die Syrer, die jünger als 18 Jahre alt sind, kennen sich nicht. Sie kennen nur ihr Gruppe. Viele Syrer haben sich hier im Exil (im Fluchtland) kennengelernt. Sie waren total voneinander überrascht.

Ganz zu schweigen von den Stammeszugehörigkeiten in einem Land. Laut einigen Statistiken vor 2011 (laut syria.chathamhouse) und regionalen Zugehörigkeiten der Einwohner der Stadt können den Stämmen mehr als 60% der Bevölkerung zugeschrieben werden.

Mauer in den Köpfen

Die Damaszenern  haben eine starke Zugehörigkeit zu Damaskus und den Söhnen von Aleppo, Homs und anderen Städten. Sie verhindern sogar, dass sie versuchen, die Neuankömmlinge aufzunehmen. In diese Region kann jeder Einwanderer in das neue Gebiet im Namen der Stadt sein, aus der er stammt, wie das Al-Halabi, Al-Homsi, Al-Hamwi, Lattakani, Al-Dairi, Al-Houranie.

Ich bin selbst in Damaskus geboren und aufgewachsen. Aber meine Eltern sind von der Golanhöhe geflohen, dem syrischen Gebiet, das Israel 1968 übernommen hat. Ich dürfte also nicht als Damaszener zu Damaskus gehören und bleibe ein Vertriebener.

Was die Menschen in Damaskus wiederholen ist, dass die Damaszener nur die Ureinwohner von Damaskus sind, die aus dem Inneren der Damaszener-Mauer kamen. Und diese Mauer hat sich in den Köpfen vieler Menschen in Damaskus festgesetzt.

Viele Syrer hätten das Recht, zu Damaskus zu gehören, weil Damaskus der politischen und kulturellen Hauptstadt der Syrer ist. Aber selbst wenn sie dort geboren wurden und dort leben, können nicht zu ihrer Stadt gehören. 

Die kleinen und fraktionellen Verbindungen, die weniger stark sind als die Verbindung zu Syrien als Land, haben die Bildung der Bildung der syrischen Identität verhindert. Dazu kommen die Verbindungen, die zwar grenzüberschreitend waren, aber vor mehr als hundert Jahren vom Kolonialismus unterbrochen wurden. Auch sie verhindern am Ende die Bildung einer eigenen, syrischen Identität, die alle Syrer vereinen könnte.

Verantwortung des politischen Systems

Das politische System trägt die volle Verantwortung dafür, diese universelle Identität für die Syrer aufgrund der Natur des Systems und seiner Interessen nach dem Prinzip der Teilung und Herrschaft nicht zu schaffen.

Es sind die Ideen der Baath-Partei, nach denen die arabische Nation zumindest theoretisch und mit der Veröffentlichung dieser Propaganda zur  Bildung dieser Arabische Nation als ein Land fordert. Sie trägt nicht dazu bei, eine syrische Nation und Identität zu bilden.

Umso wichtiger ist es, dass wir als Syrer miteinander sehr viele diskutieren. Wichtig ist Raum für politische Freiheit, Meinungsfreiheit und Respekt vor abweichenden Meinungen. Das erfordert ein demokratisches System. Und das haben wir als Syrer leider lange nicht gehabt. 

Genau das versuchten die Syrer zu fordern, bevor diese Bewegung in einen Bürgerkrieg überging. Und als der Krieg angefangen hat, haben die Syrer ihre religiösen, sektiererischen und nationalen Zugehörigkeiten stark präsentiert. Und sie haben gegeneinander gekämpft. 

Von der Revolution zum Bürgerkrieg

Es war eine Revolution, die sich im Laufe der Zeit in einen Bürgerkrieg verwandelte. Nicht nur zwischen dem Regime und dem Volk, sondern auch zwischen Land und Stadt, zwischen gemäßigten Islamisten, Fanatikern und Säkularisten, zwischen der Mehrheit und der Minderheit unter den verschiedenen Nationalitäten.

Leider haben die Intellektuellen die ursprünglichen Forderungen durchsetzen können. Manche haben im Sinne der Propaganda der Baath-Partei für die arabische Identität geworben und vergessen, dass nicht alle Syrer Araber sind. Andere waren für die islamische Identität und haben vergessen, dass nicht alle Syrer Muslime sind. Und viele haben ihr Land verloren und mussten im Exil leben. Und wir haben nicht gelesen, was sie geschrieben haben. 

Nach acht Jahren dieses Krieges gegen alles sind nun sehr viele Syrer geflohen. Sie haben die Chance, andere und neue Perspektiven zu entdecken. Sie dürfen sich kennenlernen, miteinander leben diskutieren, welche Identität sie haben möchten und nicht sollten. 

Meine Meinung nach ist das, was uns als Syrer verbindet, ein geografisch begrenztes Gebiet auf der Landkarte als ein definierter Ort und nicht als Geschichte.

Geografische Zugehörigkeit als Basis

Seien wir realistisch: Was mich mit dem kurdischen Syrer verbindet, ist wichtiger als das, was mich mit dem irakischen Araber oder Jordanier verbindet. Was mich mit dem christlichen Syrer verbindet, ist stärker als das, was mich mit den pakistanischen und malaysischen Muslimen verbindet. Was mich an die schiitischen  Syrer verbindet, ist tiefer als das, was mich mit den saudischen Sunniten verbindet. Was mich mit Aleppo verbindet, ist schöne als das, was mich mit Bagdad oder Beirut verbindet. 

Dies bedeutet nicht, dass wir die Geschichte vergessen müssen. Nur sollten wir zunächst auf die Geografie und die Realität konzentrieren.  Die Geschichte wird unser Werkzeug für die Kommunikation mit unseren Nachbarn und unserer Region bleiben.

Ja, unsere syrische Identität erfordert, dass wir gemeinsame Elemente zwischen uns finden. Wir müssen versuchen, die syrische Nation zu finden, die nicht auf Blut oder religiösen oder nationalen Zugehörigkeiten beruht, sondern auf einer rein geografischen Zugehörigkeit. 

Auf dieser Basis können wir unser neues demokratisches System bauen. Und mit der Zeit lernen wir, was Freiheit bedeutet. Wir lernen, warum wir für eigene Meinungen kämpfen, obwohl wir nicht die gleiche Meinung haben. Denn um unsere Perspektive zu entwickeln, brauchen wir auch gegenteilige und neue Perspektiven und Meinungen.

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Hussam studierte in Damaskus Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen. Parallel dazu arbeitete er als schreibender Journalist. Seit 2015 lebt er in Deutschland. Er ist Gründer und Chefredakteur von kohero. „Das Magazin nicht nur mein Traum ist, sondern es macht mich aus. Wir sind eine Brücke zwischen unterschiedlichen Kulturen.“

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