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Seit fünf Jahren ein neues Leben

Ulla hatte Bedenken, als 2015 so viele neue Menschen nach Hamburg kamen. Aber anstatt sich zurückziehen, hat sie den Schritt nach vorne gewagt und wurde nicht enttäuscht.

Seit fünf Jahren ein neues Leben

Vor ziemlich genau 5 Jahren hat mein Leben eine entscheidende Wendung erfahren. Das war die Zeit, als so viele Geflüchtete nach Hamburg kamen. In den Messehallen entstand eine große Unterkunft und nebenan eine Kleiderkammer, in der Kleiderspenden gesammelt, sortiert und verteilt wurden.

 

Helfen, wo Hilfe gebraucht wurde

Ich hatte Urlaub und Zeit. Ein bisschen unheimlich war es mir schon. Wie wird sich unsere Gesellschaft entwickeln? Wie können so viele Menschen integriert werden? Wie gehen wir mit dem neu aufflammenden Hass um?

Gegen Angst hilft, etwas zu tun und weil in den Messehallen dringend Leute gebraucht wurden, bin ich hin und hab einfach mitgemacht. Das war klasse. Die Stimmung war so optimistisch, alle Mithelfenden waren wichtig. Wir konnten wirklich etwas Sinnvolles beitragen. Während die Kleiderkammer immer voller wurde und zu einer professionellen Logistikorganisation anwuchs, entstanden in ganz Hamburg immer mehr teils provisorische Unterkünfte für die Geflüchteten. Auch dort wurde Hilfe gebraucht. Über Facebook hatten wir uns organisiert, was wo gebraucht wurde und wer wohin unterwegs war. So gab es mittags mal einen Aufruf, kurzfristig in der Erstaufnahme am Bargkoppelstieg einen LKW mit Spenden aus den Messhallen auszuladen. Das war nicht weit von mir zuhause, also bin ich schnell hingefahren.

 

Der erste Kontakt

Der LKW stand schon an der Laderampe. Davor mehrere Frauen mit kleinen Kindern. An der Rampe und im Lagerraum einige Männer, Geflüchtete und ein, zwei Angestellte von der Einrichtung – und ich. Wieder war da mein Unbehagen. Wie würden die Männer auf mich reagieren? Wie sollte ich mich verhalten?

Dann ging es los: Alle schleppten vollgepackte Pappkartons mit Kleidung, Spielzeug, Hygieneartikeln, eng aneinander vorbei. Ich schlug vor, eine Kette zu bilden und irgendwie verstanden sie mich. Schnell formierte sich die Kette und wir reichten uns die Kartons. Manche waren zu schwer für mich, die nahm mir mein „Nachfolgemann“ schnell ab. Aus einem Karton blitzten Inlineskates und einer der Männer machte mir deutlich, wie sehr er sich darauf freue, damit fahren zu dürfen. Überhaupt nichts war fremd oder unangenehm. Wir hatten Spaß zusammen, schufteten und lachten gemeinsam. Am Ende gaben mir manche die Hand, andere nickten freundlich. Von den Frauen draußen war aber keine dazugekommen, um auch zu helfen.

 

Eine unerwartete Anfrage

Im Herbst erfuhr ich, dass in meiner Nachbarschaft eine Einrichtung (EVE) für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge eröffnen würde. Dort wollte ich mich gern nützlich machen. Ich hatte Söhne in dem Alter, einen Hund und dachte mir, irgendwas wird sich schon ergeben. Eine Bürgerinitiative hatte sich gegründet, um den Jugendlichen Nachhilfe zu geben oder Freizeitaktivitäten mit ihnen zu unternehmen. Doch bevor das losging, rief eine Freundin bei mir an: „Du Ulla, ich arbeite jetzt in einer EVE und hier ist ein Junge, der braucht dringend einen Vormund. Ich denke, der würde gut zu dir und deinen Söhnen passen. Wollt ihr euch vielleicht mal kennenlernen?“ Eine Vormundschaft, puh! Ich hatte bereits etwas darüber gelesen und fand das eine Nummer zu groß für mich. Aber gucken konnte man ja mal.

 

Die Vormundschaft

Wenige Tage später saßen wir alle zusammen an meinem Esstisch beim Brunch, meine Freundin, meine Söhne, die Freundin eines Sohnes und Henok, der junge Mann aus Eritrea. Ein wenig schräge war die Situation schon, aber nach dem Treffen war klar, dass wir uns näher kennenlernen wollten. Es dauerte nicht lange und für mich stand fest, dass ich die Vormundschaft für Henok übernehmen und auch sonst alles tun würde, um ihm bei seinem Start hier so gut es geht zu helfen.

Fortan belegte ich Kurse im Jugendrecht, im Vormundschaftsrecht, im Asylrecht, in interkultureller Kompetenz und sogar eine Ausbildung zur Pflegemutter mit Spezialisierung auf jugendliche Geflüchtete absolvierte ich. Dazwischen besuchte ich Henok in seiner EVE. Nicht zu oft, denn ich wollte nicht nerven. Wir hatten aber fast täglich Kontakt über WhatsApp. Henok hatte in dem halben Jahr, in dem er in Deutschland war, schon so gut Deutsch gelernt, dass das problemlos möglich war.

Öfters verbrachte ich Zeit mit ihm in seinem Zimmer, das er mit noch drei anderen Jungs aus Eritrea teilte. Wir übten Deutsch und sprachen über alles Mögliche. So erfuhr ich, dass ihnen ihr Essen aus der Heimat so sehr fehlte: Injera. Ich nahm mir vor, die Herstellung von Injera zu lernen, um den Vieren eine Freude zu machen.

 

Injera für die eritreischen Jungs

Fortan wurde aus meiner Küche eine Versuchsanstalt, in der überall Töpfe mit Hirsesauerteig in verschiedenen Gärstadien blubberten. Die ersten Ergebnisse waren weder optisch noch geschmacklich gelungen, aber die Jungs erkannten die Geste und aßen tapfer.

Henok wurde mein Lehrmeister, was die Beilagen anging. Er hatte zuhause bei seiner Mutter gut aufgepasst und wusste, wie alles zuzubereiten war. Bald konnte ich einige Rezepte kochen und auch das Injera wurde immer besser. Das größte Lob von Henok war, als er sagte, ich könne akzentfreies Injera machen.

Wir nahmen als Kochteam gemeinsam an Kochprojekten teil wie Über den Tellerrand und Kitchen Club. Daraus erwuchs bei mir die Idee, ein Kochbuch zu schreiben, mit dem man unter den hiesigen Verhältnissen traditionelles Injera herstellen konnte.

Henoks Zimmergenossen erreichten nach und nach ihren 18. Geburtstag, was bedeutete, die Einrichtung zu verlassen. So auch Merhawi, der eine Jugendwohnung ganz bei mir in der Nähe fand. Wir hielten Kontakt und als Merhawis Vormund für längere Zeit im Ausland war, kam endlich der Termin für seine Anhörung. Also habe ich Merhawi begleitet und mit Henoks Übersetzungshilfe auch darauf vorbereitet. Letztlich bekam Merhawi nur subsidiären Schutz und ich ermutigte ihn, Klage dagegen einzureichen. Die Klage hatte Erfolg!

 

Co-Autorin für Merhawis Buch

Auch in anderen Lebenslagen war ich Ansprechpartnerin und Notfallhilfe für Merhawi. So kam eines Nachts eine Nachricht von ihm über WhatsApp: Er wolle unbedingt ein Buch über seine Fluchtgeschichte schreiben, es sei dringend. Allein komme er nicht weiter. Aber seine Lehrerin habe bereits eine Lesung für ihn organisiert und die sei schon in 14 Tagen.

In der Nachricht steckten so viel Energie und so viel Dringlichkeit – also sagte ich zu. Obwohl ich gerade mit Henoks Wohnungssuche mehr als beschäftigt war. Wir schrieben sehr intensiv an den ersten Kapiteln, so dass genügend Stoff für die Lesung da war. Die Lesung war ein voller Erfolg und so war klar, dass wir weitermachen würden. Ein Jahr später erschien unser Buch: Mein Weg in die Freiheit – Mit 15 Jahren allein auf der Flucht. Wir haben es schon auf vielen Lesungen vorgestellt.

 

Und heute?

Mittlerweile hat sich mein Alltag wieder etwas geändert. Die jungen Männer nehmen ihr Leben mehr und mehr selbst in die Hand und ich muss lernen, sie genau das tun zu lassen, wie bei meinen Söhnen auch. Mein Engagement spielt sich mehr im Hintergrund ab, online, in der Öffentlichkeitsarbeit. Henok ist Teil unserer Familie geworden, was wohl die größte und nachhaltigste Bereicherung für mein Leben ist.

Meine Scheu vor fremden Kulturen ist dem Ärger über Rassismus, Hass und Hetze gewichen. Ich freue mich für alle, die es bis hierher geschafft haben. Für mich sind sie eine Bereicherung! Ich wünsche mir einen offenen Austausch, an dem wir alle gemeinsam wachsen können.

Auch das Kochbuch ist auf einem guten Weg und wird hoffentlich in den nächsten Monaten in Druck gehen können.

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Autorengruppe
Ulla arbeitet bei der Evangelischen Kirche im Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Ansonsten ist sie aktiv als Freizeitmusikerin, am liebsten mag sie Alte und Frühe Musik. Eine weitere große Leidenschaft von ihr ist ihr Garten, der vielen Pflanzen- und Insektenarten ein Zuhause bietet. 2018 hat sie gemeinsam mit einem jungen Geflüchteten ein Buch über dessen Flucht veröffentlicht (Mein Weg in die Freiheit). „Bei kohero arbeite ich, weil ich dieses tolle Projekt gern im Rahmen meiner Möglichkeiten und Fähigkeiten unterstützen möchte.“

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