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Menschen mit Fluchterfahrung – Leid und Verlust

Zu Fuß, in Bussen und auf Schlauchbooten mach(t)en sich viele Tausende von Menschen auf den Weg Richtung Deutschland. Nicht wenige nehmen Unmenschliches, ja Unbeschreibliches auf sich und sind zumeist beseelt von der Hoffnung auf ein wie auch immer geartetes Fortkommen im Leben. Wie aber ihr Ankommen hier in Deutschland vonstattengeht, hängt von verschiedenen Bedingungen und Faktoren ab.

Menschen mit Fluchterfahrung- Leid und Verlust

Welcher Aufenthaltsstatus wird ihnen zuerkannt? Welche Kriegs- und Notsituationen haben sie in ihrem Heimatland durchgestanden? Welche Bildungsbiographie haben sie dortzulande durchlaufen?

Auch die Haltung und die Einstellung der Menschen in der Aufnahmegesellschaft spielt eine große Rolle. Fühlt sich ein Geflüchteter akzeptiert, willkommen und ernstgenommen, wird Integration und Identifikation mit der Gesellschaft möglich bzw. wahrscheinlich. Fühlt er sich nun abgelehnt, verachtet und bemitleidet, erlahmt allmählich sein Wille, sich und seine Gedanken zu entfalten und seine Integrationsbereitschaft zu mobilisieren!

Ankunft in Deutschland

Angekommen in Deutschland, werden Menschen mit Fluchterfahrung häufig kollektiv als solche wahrgenommen, die Leid- und Verlusterfahrungen gemacht haben und Unmenschlichkeit, Terror und Kriegen zum Opfer gefallen sind. Sicher haben Geflüchtete unzählige Bitternisse und Bedrängnisse erlitten: Vertreibung, Verfolgung, Herabwürdigung und existenzielle Angst um Leib und Leben. Zweifelsohne sind solche Widerfahrnisse mater- und leidvoll. Umso leidvoller sind noch die Verlusterfahrungen, die viele auf bzw. nach der Flucht machen.

Hannah Arendt und ihre eigene Situation

Hannah Arendt beschreibt, in ihrem Essay We Refugees im Januar 1943, die Situation von Flüchtlingen und somit ihre eigene wie folgt:“Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren“. „Wir haben unsern Beruf und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein.  […] und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt.“ (vgl. Arendt 1943).

Arendt sagte damals mit diesem Selbstzeugnis dem migrationserfahrenen amerikanischen Publikum, was es wirklich bedeutet, Flüchtling zu sein. Im Folgenden hingegen sollen manche Bilder, Zuschreibungen, Reduktionen und Konstruktionen dargestellt werden, die bewusst und nicht selten unterbewusst auftreten, wenn Menschen mit Geflüchteten in Kontakt treten und mit ihnen Umgang pflegen.

Moralisch gut oder böse?

Wenn man die Debatte um die Flüchtlingsthematik in letzter Zeit intensiv verfolgt, muss man wohl zugeben, dass die Haltungen, Einstellungen und Wahrnehmungen in diesem Zusammenhang sehr ambivalent scheinen. Die einen stellen Geflüchtete als absolut bedrohlich dar, die anderen neigen eher dazu, sie per se als moralisch gut zu betrachten.

Auch wenn die meisten vor „dem Bösen“ geflohen sind, ist die Zuschreibung moralisch guter Eigenschaften nicht zwingend gerechtfertigt. Man verkennt damit das menschliche Wesen. Wenn man Geflüchteten in der Realität begegnet, stellt sich bald heraus, dass sie „normale“ Menschen sind. Sie haben ihre Interessen, Bedürfnisse, Ambivalenzen und Neigungen, zu helfen aber auch sich eigennützig zu verhalten. Sie sind zum Guten und genauso zum Bösen fähig.

Auch positive Pauschal-Zuschreibungen sind fraglich. Sie können deswegen problematisch wirken, weil sie schnell in ihr Gegenteil umzuschlagen drohen, wenn sie nicht erfüllt werden. In der realen Begegnung kommt es entscheidend darauf an, ohne Vorurteile aufeinander zuzugehen und den anderen jenseits aller Kategorien wahrzunehmen.

 Passive Opfer oder aktive Mitgestalter?

Gewöhnlich werden Menschen mit Fluchterfahrung als solche wahrgenommen, die Leidvolles erfahren haben und die Opfer eines mehrdimensionalen Verlustes sind. In der Tat haben sie meistens vor ihrer Flucht Leid erfahren: Diskriminierung, Verfolgung oder Subsistenz bedrohende Not. Dieses Leid ist so gravierend, dass ihre Entscheidung zur Migration erzwungen oder notgedrungen wurde.

Zu diesem Leid vor der Flucht kommen nicht selten Leiderfahrungen während der Flucht und vor allem eine umfassende Verlust-Erfahrung nach und aufgrund der Flucht hinzu: Geflüchtete verloren ihre Heimat, ihr Zuhause, ihre Eingebundenheit in soziale, ökonomische, sprachliche und kulturelle Kontexte und damit die „Vertrautheit des Alltags“– so Hannah Arendt, die ihre eigene Verlust-Erfahrung in dem Essay We refugees als „vollständigen Zusammenbruch der privaten Welt“ beschreibt (vgl. Arendt 1943).

Menschen mit Fluchterfahrung haben durch das Verlassen ihres Heimatlandes alle nationalstaatlich fundierten Rechte verloren. Dabei erlangen sie im Aufnahmestaat noch nicht den Status der Staatsbürgerschaft und damit Bürgerrechte und politische Mitwirkungsmöglichkeiten, die über das Maß „bloßer“ Menschenrechte hinausreichen.

Auch wenn Geflüchtete häufig Opfer von Leid- und Verlust-Erfahrungen sind, sollte man nicht vergessen, dass sie nicht nur passive Opfer sind. Sie sind auch Akteure mit mehr oder weniger umfangreichen Ressourcen, eigenen Vorstellungen eines guten Lebens und daraus erwachsenen handlungsleitenden Zielen, Präferenzen und Motiven. Die mühevolle, risikoreiche Flucht selbst, obwohl sie erzwungen wurde, und der Umgang mit Alltagsanforderungen in einer noch völlig fremden Gesellschaft sowie das Sich-Einlassen auf Integrationsprozesse sind Ausdruck und Ausweis von Handlungsmächtigkeit.

Einfach anders als „Wir“

In Talkshows wird ständig behauptet, dass Menschen mit Fluchterfahrung  „anders“ als „Wir“ seien. Schon das Reden vom „Wir“ unterstellt, dass die Differenzen unter den Menschen in Deutschland kaum vorhanden oder weit geringer seien als die zwischen diesem „Wir“ und „den“ Geflüchteten.

In der Tat weisen Menschen, die beispielsweise aus dem Orient stammen, oft Eigenschaften und Züge auf, die als „anders“ oder sogar „fremd“ erscheinen können: Sie sprechen eine andere Sprache, sie fallen manchmal durch äußere körperliche Merkmale auf, sie kommen aus anderen und sehr differenzierten Lebenswelten und verhalten sich in Interaktionen manchmal ungewöhnlich.

Oft spricht man hier von Fremdheit. Fremdheit also, die dann zum Vorschein kommt, wenn Erwartungen an bestimmte Verhaltensmuster, Erscheinungsbilder, Sprachrepertoire, Lebensentwürfe, die einem vertraut sind, in einer bestimmten Situation abrupt enttäuscht werden.

Mit diesen Enttäuschungen gehen Menschen nach meiner Beobachtung sehr unterschiedlich um: Die einen tun so, als würden sie das ihnen fremd Scheinende nicht mehr als fremd wahrnehmen. Sie versuchen andere Teile des Fremden zu verändern und anzupassen, sodass es in bereits vorhandene Kategorien passt. Natürlich gibt es auch jene, die alles ihnen Fremde kritisch beäugen oder gar bedrohlich finden.

Begegnung von Andersartigkeit

Nicht besonders viele erkennen das Andere bzw, Fremde an, wie es faktisch ist, ohne es voreilig zu „schubladisieren“. Für eine pluralistische und anerkennende Gesellschaft ist es wichtig, dieser Andersartigkeit in einer fragenden und respektvollen Rücksichtnahme zu begegnen (was nicht unbedingt besagen müsste, es „gut zu heißen“).

Menschen mit Fluchterfahrung kommen aus in vielfacher Hinsicht anderen soziokulturellen Lebenswelten. Deshalb setzt ein gelingender Umgang mit derartigen Differenzen voraus, ethische, religiöse und kulturelle Unterschiede nicht wegzuerklären und zugleich nicht überzubetonen. Es besteht zum einen die Gefahr, die Angst einiger Menschen vor den vermeintlichen oder tatsächlichen Differenzen fortzuschreiben. Zum anderen die wichtigen Gemeinsamkeiten zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Geflüchteten aus dem Blick zu verlieren. Das gilt insbesondere für jene, die allen als Menschen zukommen und die ein friedliches Miteinander fernab sozialer und kultureller Unterschiede ermöglichen.

 

Hannah Arendt: We Refugees. Menorah Journal, 1943.

 

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Ich bin 29 Jahre alt, studierte Social Work in Syrien, lebe seit Ende 2015 im schönen Allgäu, absolviere aktuell Studium der Sozialpädagogik in Kempten und bin beruflich parallel zum Studium im Integrationsbereich teilzeitbeschäftigt.

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