Auf diese Weise verlief unser Leben, bis eines Tages die Freie Syrische Armee in unsere Stadt kam. Damit begann unser Leiden. Die Freie Syrische Armee kämpft gegen die Regierung und für die Freiheit, aber wo sie auftauchte, brachte sie den Menschen Leid.
In meiner Familie waren wir zehn Mädchen und vier Jungen. Auf unseren Gesichtern lag der Schimmer des Glücks. Mein fünf Jahre älterer Bruder war mir in all der Zeit in Syrien am nächsten. Er war auch meiner Mutter sehr nah, hörte darauf, was sie sagte. Er war damals der Einzige von uns, der nicht verheiratet war. All meine anderen Brüder und Schwestern sind verheiratet. Die meisten haben Kinder.
Das Leid prägt die Familie
Mein Vater ist schon gestorben, meine Mutter lebt noch. Aber Allah lässt sie bitter weiterleben. Alle meine Geschwister haben sich dafür entschieden, aus unserer Stadt zu fliehen oder gar in andere Länder zu gehen, um dem Leid zu entgehen. Einer meiner Brüder ging als Schneider nach Damaskus. Er wäre besser nicht dorthin gegangen. Bis heute fehlt uns jede Spur von ihm. Meiner Mutter zerreißt es das Herz. Um ihn zu suchen, ging ein anderer Bruder von mir ebenfalls nach Damaskus. Unter Bombenbeschuss arbeitete er als Taxifahrer. Eines Tages wurde er von einem Fahrgast ausgeraubt und vom Auto aus auf die Straße geworfen. Als er nach Hause kam, war meine Mutter froh, dass ihm nichts Schlimmeres passiert war. Größeres Leid hätte sie nicht ertragen. Aber seitdem ging es ihr immer schlechter.
Als er wenige Tage später von der Armee eingezogen wurde, sah er darin die Chance auf ein festes Einkommen – und die Hoffnung, meinen vermissten Bruder wiederzufinden. Wir sahen auch ihn seitdem kaum noch.
Flucht nach Libyen
Als unser Haus in Aleppo bombardiert wurde, forderte meine Mutter mich und meinen Mann dazu auf, nach Libyen zu gehen. Sie fürchtete, noch mehr Leid, noch mehr Kinder zu verlieren. Mein Mann war arbeitslos geworden und meine Brüder waren alle in der Armee oder aus unserer Stadt geflohen. Wir waren schutzlos geworden.
In Libyen verlor ich den Kontakt zu meiner Familie in Aleppo. Es gab keine Telefonverbindung dorthin und meine Brüder waren an verschiedenen Orten – unter Bomben, in Gefahr zu verhungern.
Der Anruf der Schwester
Vier Monate später bekam ich einen Anruf von meiner Schwester. Ich erschrak, als ich ihre Stimme hörte.
Im Namen Allahs drängte ich sie, mir die Wahrheit zu sagen: Lebt unsere Mutter noch? Leben die anderen aus unserer Familie?
Einer meiner Brüder war erschossen worden, ein anderer lag schwer verletzt im Koma. Ich stand unter Schock, konnte nicht sprechen, weinte unaufhörlich und wünschte mir nichts sehnlicher, als bei meiner Mutter zu sein. Warum muss mir so viel Leid widerfahren, warum muss ich erleben, dass meine Geschwister auf diese Weise umkommen?
Mein Mann, der in Libyen wieder Arbeit gefunden hatte, eilte zu mir nach Hause und stand mir bei. Sobald ich mich wieder etwas gefasst hatte, rief ich meine große Schwester erneut an, um zu erfahren, wie es meiner Mutter ging. Sie erzählte mir, unser Elternhaus sei bombardiert worden, meine Mutter habe einen Schock erlitten und könne seitdem nicht mehr auf ihren Beinen stehen. Seitdem sitzt sie gelähmt – zwischen Bomben und Hunger in Aleppo – und ihre einzige Hoffnung besteht darin, dass ihr jüngster Sohn wieder auftaucht.
Der größte Wunsch
Ich halte diesen Gedanken nur schwer aus und meine Seele ist bei ihr in unserem Haus in Aleppo. Mein größter Wunsch ist es, meine Mutter zu mir nach Deutschland zu holen, und mit der Hilfe von Ärzten ihre Beine zu heilen, sodass sie wieder aufrecht stehen kann. Dieser Gedanke wiegt schwere als alles, was je auf mir lasten könnte. Aber ich danke Allah und hoffe, dass die arabischen Länder gesegnet sein werden und eines Tages in Frieden leben. Und dass meine liebe Heimat Syrien mit seinem Willen eine bessere Zukunft haben kann.
Übersetzung: Khaled Al Rifai