„Mama, kann ich mit Lola draußen spielen?“ fragte die zehnjährige Maria José ihre Mutter Soraya. Würden sie in einer der sicheren Wohnhäuser von Rio de Janeiro wohnen, hätte Soraya sofort „ja“ gesagt. Aber hier, in der Favela da Maré, einer der größten Siedlungen in der Nähe des Flughafens, musste die Antwort auf diese simple Frage genau überlegt werden.
Eine Kindheit mitten im Straßenkrieg
Am Morgen hatte es eine wilde Schießerei zwischen den Polizisten des BOPE (portugiesisch für „Bataillon für spezielle Polizeioperationen“) und Mitgliedern einer Drogenfraktion gegeben. Wie alle anderen Kindern konnte Maria José, wie schon häufig, mal wieder nicht zur Schule gehen an diesem Morgen. Und jetzt langweilte sie sich, während Soraya sich ums Essen kümmerte. „Ok, Maria, du kannst rausgehen, aber bleib in der Nähe, da wo ich dich sehe.“ „Danke Mama“, und schon war Maria José aus der Tür gehuscht, mit ihrer Lieblingspuppe unter dem Arm.
Soraya schaute aus dem Fenster und konnte sehen, wie ihre Tochter an der Tür eines benachbarten, schäbigen Hauses klopfte. Sekunden später kam Lola raus und beide Mädchen fingen sofort an, mit ihren Puppen Krankenhaus zu spielen. Sie kicherten und lachten laut, als sie darüber abstimmten, wer jetzt die Ärztin spielt.
Diese Erinnerungen kamen jetzt hoch, getragen von sehr vielen Tränen der Trauer, als Maria José bei der Beerdigung ihrer alten Freundin Lola am Grab stand. „Das ist eine Schande“, sagte Maria José mit leiser Wut in der Stimme. „Wofür hat sie so lang gekämpft?“. Ihre Worte gingen im Wimmern und Heulen der Umstehenden unter. „Sie hat sich so auf die Uni gefreut, und jetzt haben die sie umgebracht“.
Kampf dem alltägliche Wahnsinn
Lola starb im Kugelhagel, während einer Schießerei zwischen Polizisten und Drogendealern. Ein weiteres Opfer der ausufernden Gewalt und dem sinnlosen Krieg zwischen den Guten und Bösen, je nachdem, auf welcher Seite man stand. Vielleicht war es dieser Tag, als Maria José anfing, sich Gedanken darüber zu machen, was sie machen könnte, um den alltäglichen Wahnsinn zu bekämpfen. Oder zumindest zu versuchen, dass diese Menschen aus ihrer Gegend selbst für deren Rechte kämpfen würden.
Es waren immer wieder die Legionen von Vergessenen und Unsichtbaren, die auf der Strecke blieben. „Der harte und zum Teil undankbare Kampf für die Grundrechte der Armen hat mein Bewusstsein für die Welt geweckt“, sagte Maria José in Gesprächen mit anderen Studenten. „Ich bin eine Frau, schwarz und komme aus der Favela da Mark, und jetzt bin ich eine Verteidigerin der Menschenrechte“. Sie sprach und erinnerte sich, dass sie vor Jahren nicht einmal hätte davon träumen können, jemals einen Studienplatz an einer renommierten Universität in Rio de Janeiro zu bekommen.
Eine junge Frau macht sich stark
Nach vielen anstrengenden Jahren hat sie ihre Doktorarbeit in Sozialwissenschaften abgeschlossen. Sie und eine Kommilitonin waren die einzigen schwarzen Frauen der Abteilung. Maria José wurde eine sehr junge Mutter – im Alter von 19 bekam sie eine Tochter, Luisa. „Sie hat mir die Kraft gegeben, für die Rechte der Frauen zu kämpfen und dieses Thema in den Favelas zu diskutieren“. Mit ihrer Dissertation „UPP (Einheit der Befriedungspolizei): Die Reduzierung der Favela auf drei Buchstaben“ erlangte sie ihre Professur.
Maria José bekam eine Stelle in der Kommission der Menschenrechte im Landtag von Rio de Janeiro. „Ich weiß, dass dieses Thema sehr viele Empfindlichkeiten hervorruft, aber angesichts der eklatanten Verletzungen muss ich aktiv werden und Gesicht zeigen. Mir ist bewusst in welchem Schlangennest ich mich bewege“. Sie hat hart dafür gearbeitet, um die Notwendigkeit der Bekämpfung des Rassismus klar zu stellen.
Sie musste zeigen, dass eine schwarze Frau aus einer Favela die Stellen der Macht besetzen kann und soll. „Es interessiert mich nicht, ob sich kleine und große Mafiosi an meiner Arbeit stören“. Sie kandidierte als Landtagsabgeordnete und wurde zur fünft meist gewählten Kandidatin.
Es war ihre erste Wahl. Maria José hat mit verschiedenen Vertretern der einzelnen Favelas in Rio de Janeiro zusammen gearbeitet und die sozialen Foren als Kanal benutzt, um die Rechtsbrüche seitens der Polizei in den Elendsvierteln sichtbar zu machen. „Es reicht, dass die Bevölkerung terrorisiert wird! Wie viele junge Leute sind schon erschossen worden? Das war schon immer so und seit der Militärintervention ist schlimmer geworden“.
Ich bin, weil wir alle sind.
Maria José hat in ihren Aktionen ein Motto auf Ubuntu verwendet, eine afrikanische humanistische Philosophie: „Ich bin, weil wir alle sind“. Maria José hat begründete Vorwürfe gegen das 41. Kommando der Militärpolizei erhoben. Die Beamten sollen mit äußerster Brutalität gegen die Bewohner der Armenviertels von Acari, weit im Norden der Stadt, vorgegangen sein.
An einem Mittwochabend, gegen 21:30 Uhr, verließ Maria José eine Veranstaltung im Haus der Schwarzen Frauen in Papa – das Ausgehviertel mitten in der Altstadt von Rio. Sie war eine der Initiatorinnen dieses Treffpunkts für Frauen aus den verschiedenen Favelas. Dort entwickelten sie Projekte und Programme, um ihre Präsenz in der Gesellschaft zu stärken. Und, um eine gemeinsame Stimme gegen die Gewalt, Armut und staatliche Vernachlässigung laut zu äußern. Maria José wurde von ihrer jungen Sekretärin, Marlene, begleitet. Im Auto wartete der Fahrer, Armando. Ein ehemaliger Polizist, der den Korruptionssumpf innerhalb der Polizei nicht mehr ertragen konnte und den Job deshalb quittierte.
Er war ein junger Vater und hatte Angst, eines Tages nicht mehr sicher zu seiner fast einjährigen Tochter nach Hause zurückzukommen. Marlene bat Maria José, neben sich auf dem Rücksitz Platz zu nehmen. „Ich will dir die Fotos der Veranstaltung zeigen. Du kannst sie auf der Homepage benutzen“. Beide Frauen stiegen hinten ein, Armando flachste in seiner lockeren Art „ Na Chefin? Wirst du mir jetzt untreu?“. „Du bist ja schon vergeben“, antwortete Marlene lachend.
Der Wagen startete, es war schon recht dunkel. Ein anderes Auto rollte langsam hinter dem Wagen von Maria José. „Die Bilder sind wirklich schön“ sagte sie, „Es wird schwer sein, nur ein paar davon zu nehmen“. „Ich helfe dir gern dabei, Chefin“, sagte Armando mit einem kurzen Blick nach hinten. „Pass lieber auf die Strasse auf“, antwortete Marlene. Armando drehte seinen Kopf nach vorne und konnte im letzten Moment einen Wagen wahrnehmen, der sich direkt vor ihm quer gestellt hatte. „Was soll das?“ schrie Armando, während er das Auto scharf bremste.
Das Ende kam aus dem Nichts
Alle drei schauten jetzt auf den Wagen und konnten die Männer nicht sehen, die aus dem hinteren Wagen ausgestiegen waren. Einer davon stellte sich direkt neben den Rücksitz des Wagens und feuerte neun Mal. Fünf Kugeln trafen Maria José. Armando wollte aussteigen – aber es war zu spät. Der zweite Mann erwischte ihn noch am Steuer mit vier Kugeln. Und jede davon ein Volltreffer.
Das Ganze dauerte nicht länger als zehn oder fünfzehn Sekunden. Die Männer stiegen wieder ins Auto und fuhren los. Die dunkle Strassen waren nicht sehr belebt um diese Uhrzeit, fast direkt neben dem Rathaus von Rio de Janeiro. Es brauchte einen Augenblick, bis ein Pförtner von einem der umliegenden Hochhäusern die Polizei alarmierte. Aber es war ohnehin nichts mehr zu machen …
Die Nachricht über die Bluttat schoss wie ein Pfeil durch die Straßen und Netzwerke, und brachte wenigen Stunden danach Tausende von Menschen in Protestmärschen zusammen. Maria José wurde zwei Tage später am Hauptfriedhof von Rio de Janeiro zu Grabe getragen. Es war ein seltener Anblick, als ein Meer von Trauergästen applaudierte, während der Sarg seinen langsamen Weg an der Menschenmenge vorbei rollte.
Sie gab den Vergessenen und Unsichtbaren eine Stimme
An ihrem Grab stand auch eine schwarze Polizeibeamtin neben einiger ihrer männlichen Kollegen. „Wir kommen aus dem gleichen Viertel, Maria. Aber du warst diejenige, die mit Mut den Vergessenen und Unsichtbaren dieser Gesellschaft eine Stimme gegeben hat. Wir danken dir, du hast wie eine Heldin gelebt hast und wie eine gestorben bist“, sagte sie laut unter Tränen. Ein Polizist legte seinen Arm auf ihre Schulter, um Trost zu spenden. Die Umstehenden hörten bedächtig zu.
Maria José wurde 36 Jahre alt.