In jeder vierten Familie mit Migrationshintergrund ist der höchste Schulabschluss lediglich ein Hauptschulabschluss. Im Kontrast dazu liegt dieser Anteil bei Familien ohne Migrationshintergrund nur bei 14%. In Deutschland verringert ein Migrationshintergrund also die Bildungschancen. Diese Bildungsbenachteiligung zeigt sich in den erzielten Schulleistungen: Ein höherer Anteil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund verlässt die Schule ohne Abschluss, weniger besuchen ein Gymnasium und insgesamt werden im Durchschnitt niedrigere Ergebnisse bei Tests erreicht – auch wenn es um das Lesen geht.
Tatsächlich kann man diese Unterschiede schon viel früher identifizieren: Studien zeigen, dass diese insbesondere mit der im Schnitt niedrigeren Sprach- und Lesefähigkeit zusammenhängen. „Unzählige Kinder [mit Migrationshintergrund] kommen nur auf 48% der in Klasse vier erwarteten Lesekompetenz“, erzählt Annegret Böhm, die Vorstandsvorsitzende des LeseLeo e.V.. Seit 2008 betreut der Verein hamburgweit Grundschüler*innen, die Schwierigkeiten mit dem Verständnis von Texten haben und steht so für Leseförderung und frühkindliche Sprachbildung ein.
Deutsch als Zweitsprache
Ein Migrationshintergrund beeinflusst meist schon zu einem frühen Zeitpunkt die Bildungsteilhabe des Kindes. Das Gehirn stellt sich bereits in der frühkindlichen Entwicklung auf das Lesen ein, indem Begriffe in der Muttersprache verfestigt werden. Heutzutage spricht allerdings jedes fünfte Kind zu Hause kein Deutsch. Dazu kommt, dass Eltern mit Migrationshintergrund Familien- und Kinderangebote wie Spielgruppen oder Kinderbetreuung oftmals deutlich später in Anspruch nehmen als deutsche Familien, sodass eine Vielzahl von Kindern Deutsch als Zweitsprache erst in der Schule lernt. Bei ihnen sind also bereits Begriffe auf einer anderen Sprache verfestigt. Die Mehrsprachigkeit an sich ist dabei allerdings nicht als ein Problem anzusehen. Expert*innen bestätigen, dass ein Kind in seiner Entwicklung von dieser profitiert. Insgesamt führt Mehrsprachigkeit so zu einer kulturellen Bereicherung unserer Gesellschaft. Dennoch gilt Deutsch bundesweit als Bildungssprache und muss deshalb bei jedem Kind auf einem entsprechenden Niveau gefestigt werden.
Lesepat*innen im Einsatz
„Kinder müssen verbindlich ab dem 3. Lebensjahr in die Kita. Es bedarf intensiver Leseförderung, um Mehrsprachigkeit und Lesekompetenz zu ermöglichen“, sagt Annegret Böhm. Einmal in der Woche findet die Leseförderung in entsprechenden Partnerschulen, Bücherhallen oder Flüchtlingsunterkünften statt, wobei jedes Kind einzeln von einer/m Lesepatin/en unterstützt wird. Mit rund 700 Ehrenamtlichen achtet der Verein insbesondere auf Grundschüler*innen, die zu Hause kein Deutsch sprechen. Durch diese individuelle Betreuung sei es möglich gezielt auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen und ihm so Raum für Lernerfolge zu schaffen, so Böhm. Sie berichtet, dass sich bereits nach kürzester Zeit nicht nur eine Verbesserung der Lesekompetenz, sondern vor allem eine Stärkung der Resilienz zeige. Die Kinder würden anfangen im Unterricht mitzuarbeiten und vor der ganzen Klasse zu sprechen. Sie würden ein neues Selbstwertgefühl gewinnen, welches sie in ihrer weiteren Entwicklung nachhaltig voranbringe und stütze.
Die Reichweite der Förderung geht laut Böhm dabei allerdings über die Leistung des Kindes hinaus. Oft wirke der Erfolg in das Leben der ganzen Familie hinein, erläutert sie. Ein wichtiger Bestandteil der Lesepatenschaft sei so das Lesen der „kunterbunten Kinderzeitung“, die sich mit gesellschaftlich relevanten Themen befasst und aktuelle Geschehnisse in einfacher Sprache für Grundschulkinder aufarbeitet und so zugänglich macht. In jeder Ausgabe werden dabei lediglich drei neue Wörter eingeführt, um die teils komplizierten Begriffe wirksam zu festigen und die Sachverhalte verständlich zu erklären. „Die Kinder erlernen die Fachtermini und sind so in der Lage sich im Weltgeschehen zu orientieren. Sie bringen den gesellschaftlichen Dialog nach Hause“, führt Böhm weiter aus. Die Kinderzeitung werde nach der Förderstunde kurzerhand eingepackt und dann beim Abendessen wieder herausgeholt. Schnell initiiere ein Kind auf diese Weise ein Gespräch und fördere so die soziale Teilhabe der Familie ganzheitlich.
„Der kritische Bürger muss Lesen können“
Annegret Böhm betont: „Der kritische Bürger muss lesen können. Er muss Quellen selbständig bewerten und beurteilen können. Das tut das Internet nicht“. Die ehemalige Grundschullehrerin spielt damit auf die Bedeutung des sogenannten vertiefenden Lesens an. Anders als beim schnellen Lesen am Computer, geht es dabei nicht um die Aufnahme von Informationen, sondern um das Eintauchen in die beschriebenen Welten. Das vertiefende Lesen ermöglicht das Einsteigen in bestimmte Rollen und das Mitleiden mit diesen Personen. Leseforscher*innen bestätigen, dass diese Fähigkeit ausschlaggebend für die kognitive Entwicklung eines Kindes ist.
Studien der Stiftung Lesen zeigen, dass Kinder durch Kinderbücher erstmals das Leben aus anderen Perspektiven erfahren und so mit einer grundlegenden Vorstellung von Gut und Böse konfrontiert werden. Indes wird also nicht nur die Fantasie des Kindes angeregt, sondern auch die emotionale Stärke. Sie entwickeln ein Empathievermögen, das es ihnen ermöglicht sich in andere Personen hineinzuversetzen. Nur auf diese Weise können Kinder zu toleranten Menschen heranwachsen, die den gesellschaftlichen Diskurs kritisch hinterfragen und prägen können.
Um jedem Kind die Chance zu geben, sein volles Potenzial unabhängig von seiner Herkunft auszuschöpfen, braucht es eine umfassende Förderung von den Kindern, die von zu Hause nur wenig Bildungsressourcen mitbringen. Das Lesen erweist sich als die Grundlage für ein Verständnis von dem, was in unserer Gesellschaft passiert. Somit scheint es in einer vielfältigen Gesellschaft wie in Deutschland eine Schlüsselqualifikation darzustellen, die essentiell für ein demokratisches Miteinander ist.
Quellen: