Ich bin geboren und aufgewachsen in Sankt Petersburg in Russland. In den turbulenten Neunzigern arbeitete ich als Tänzerin und Schauspielerin in verschiedenen Theatern und studierte an der Theater-Akademie. Danach ging in nach Holland, um in einer Tanzhochschule in Arnheim weiter zu studieren. Im Sommer flog ich für einen Tanz- Workshop in die USA und blieb dort. Ich heiratete meinen Boyfriend.
Mein Leben in den USA
Wir lebten damals in New Jersey und arbeiteten in Manhattan. Jeden Tag fuhren wir nach New York und steckten anderthalb bis zwei Stunden im Stau. Ich nähte Taschen und Koffer für Musikinstrumente und mein Mann lieferte gemietete Instrumente für Konzerte. Gleichzeitig begann ich in einer Musikgruppe zu singen, tanzte und probte für meine Aufführungen weiter. Im Jahr 2002 zeigte ich eine Solo-Performance beim New York Fringe Festival. Scheinbar war in den USA alles möglich – im Gegensatz zu Russland, wo alles unmöglich schien. Auch wenn man als Künstler nicht anerkannt ist, kann man in New York trotzdem irgendwie Geld verdienen und sich weiter mit der Kunst beschäftigen. Zum Beispiel Kostüme im Atelier nähen und nebenbei tanzen, singen und Songs aufnehmen. Was ich auch bis 2008 tat.
Das zweite Kapitel in New York
Dann die Scheidung, neue Liebe, Heirat und Kinder. Gleich nach der Geburt meines ersten Kindes ist mir klar geworden, dass ich nicht mehr lange so arbeiten könnte: Ich verdiente 19,50 Dollar die Stunde und der Babysitter verlangte 15. Der Kindergarten kostete 1000 Dollar pro Monat. So blieb ich zu Hause und bekam noch zwei Kinder. Bis 2013 fuhr ich jeden Morgen mit Kindern im Alter von fünf, drei Jahren und einem drei Monate alten Baby zwei Stunden im Auto, um sie zur Schule und in den Kindergarten zu bringen, und zwei Stunden am Nachmittag, um sie von dort abzuholen. Also, mein Baby verbrachte vier Stunden täglich unterwegs im Auto!
Neuanfang in Hamburg
2014 haben wir uns entschlossen, nach Deutschland zu ziehen, um nicht so viel Zeit mit der Fahrerei zu vergeuden und so schnell wie möglich zu einer richtigen Arbeit zu kommen. Mein zweiter Mann ist in Hamburg geboren und aufgewachsen. Wir wussten bereits, wie viel Hamburg für Familien mit Kindern tut. Erschwingliche Preise für Kindergärten, Schulen mit guter Unterrichtsqualität, freie Universitäten. All dies und die relativ übersichtliche Größe Hamburgs waren für uns entscheidend.
So leben wir schon seit sechs Jahren hier. Sechs Jahre lerne ich Deutsch. Sechs Jahre Erfahrungen im deutschen Bildungs- und Theatersystem. Ich habe das Weiterbildungsprogramm als Gewandmeister absolviert. Jetzt kann ich im Theater arbeiten, aber Corona schlug zu und alles ist stehengeblieben.
Ein Land voller Gegensätze
Bisher habe ich geteilte Gefühle für Deutschland. Einerseits gibt es Kapitalismus und Meritokratie, anderseits aber auch ein sehr verschlossenes, deutsch-orientiertes, steifes, altmodisches System. Oft gibt es in Theatern eine Aufteilung in „Meister“ und „Geselle“, was Menschen daran hindert, ihr Wissen mit einander zu teilen und der Atmosphäre, der Kreativität und dem Teamgeist schadet. Manchmal gibt es buchstäblich eine verschlossene Tür zwischen ihnen. Einerseits uralte Traditionen, die man pflegen und bewahren möchte, die wertvolle Erfahrung der älteren Generation, andererseits – Vorurteile und Klassenbarrieren.
Als ich noch in Russland lebte, schien mir Deutschland technisch ein sehr fortschrittliches Land zu sein. Aber jetzt, als ich 2014 aus den USA hergezogen bin, wo man auf dem Bauernhof neben dem Kuhstall ein Eis kaufen und mit Karte bezahlen konnte, sah ich, dass Deutschland irgendwo im Jahr 2000 stecken geblieben ist. Ein Großhandel für Stoffe sagte mir, dass ich schriftlich per Post bestellen muss, um Fehler bei der telefonischen Bestellung zu vermeiden! Und dies im Jahr 2020. Amazon und Ebay gibt es seit 1995, und hier bittet das größte deutsche Unternehmen ihnen einen Brief mit der Bestellung per Post zu schicken. Es gibt viele Dinge, die ich einfach nicht verstehen kann: Warum verwischen Leute ihre Häuser auf Google Maps? Oder warum möchten sie ihre Adresse nicht bei der Arbeitsstelle öffentlich z.B. für einen Krankheitsfall oder vielleicht für die Weihnachtspost angeben?
Trotzdem kann ich mit Zuversicht sagen, dass wir die richtige Wahl getroffen haben. Für unsere Kinder ist dies der beste Ort, an dem sie wachsen und stärker werden können. Ich habe es noch nicht geschafft, meinen Platz in Deutschland zu finden, ich schaue aber mit Optimismus nach vorne. Wie in allen anderen Ländern, in denen ich lebte, fand ich auch hier eine russischsprachige Diaspora. Es hilft mir, mich nicht wie eine Ausgestoßene zu fühlen.
Heimatgefühl bedeutet für mich…
Wenn ich in New York traurig war, ging ich nach Brighton Beach, um Pfannkuchen mit rotem Kaviar zu essen. Dort – wie in einem Mini-Russland – konnte ich sehen, warum ich nicht in Russland leben wollte. Jetzt kann ich in zwei Flugstunden in St. Petersburg sein und fliege doch nur einmal in zwei Jahren. Dies reicht mir aus, um die Illusion zu vertreiben, dass sich dort etwas geändert hat. Wenn ich nach Russland komme, fühle ich mich trotz der Sprache fremd.
Ich habe in den letzten 25 Jahren in 6 Ländern (Österreich, Holland, USA, Frankreich, Deutschland, Indien) gelebt und gearbeitet. Ich habe das Heimatgefühl verloren. Gleichzeitig weiß ich immer besser, wo ich Unterstützung suchen, wie ich mich anpassen, mein Leben einrichten und meine innere Ressourcen wieder auffüllen kann. Dabei spielt es keine Rolle, in welchem Land ich mich befinde. Es bedeutet, die Heimat ist immer dort, wo meine Söhne, meine Familie und ich gerade sind.
Eugiena Loginova hat diesen Bericht vom Russischen ins Deutsche übersetzt.