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Hoffen und Beten. Corona in Syrien

Die Zahlen der Toten und Infizierten ändern sich täglich. Auf welche Daten ist Verlass? Mit Stand 13. August 2020 wird hier ein Blick auf das Infektionsgeschehen in Syrien geworfen. Viele Todesfälle, fehlende Ärzte und zerstörte Krankenhäuser verschärfen die Situation. Zuhause bleiben ist für die Menschen dort kaum eine Option. Denn auch die Armut bedroht das Leben. "Alles was uns bleibt, ist Hoffen und Beten", heißt es am Schluss dieser bedrückenden Bestandsaufnahme.

Die Zahlen der Toten und Infizierten ändern sich täglich. Auf welche Daten ist Verlass?

Zum Opferfest rufe ich einen Freund  an, der auch in Deutschland lebt. Er sagt mir, dass seine Mutter in Syrien krank ist, wahrscheinlich mit einer Corona-Infektion. Aber leider gibt es für sie in Damaskus keinen Platz in einem der Krankenhäuser, weil die Krankenhäuser in Damaskus alle voll sind.  Sie soll zuhause bleiben. Zum Glück hat sein Bruder einen Arzt gefunden. Der kommt nun jeden Tag, um sie zu untersuchen. Und sie haben eine Sauerstoffflasche auf dem Schwarzmarkt gekauft. 

Was in Syrien weiter passieren wird, kann man nicht wissen. Aber wenn ich meinen Facebook-Account öffne, habe ich das Gefühl, auf einem Friedhof zu sein. Viele Freunde, Bekannte und Verwandte veröffentlichen dort ihre Traueranzeige für ihre Großeltern oder Eltern oder Verwandten – so der Eindrück vor etwa drei Wochen von einer deutschen Freundin, die viele Freunde aus Syrien auf Facebook hat.

Was sagen die Zahlen über die Situation?

Die erste Infektion mit dem Coronavirus wurde am 22. März in Syrien bei einer Person aus dem Ausland registriert. Der erste Todesfall wurde am 29. desselben Monats bekannt.

Die Gesamtzahl der in Syrien registrierten Neuinfektionen mit dem Coronavirus wurde bis zum 13. August 2020 wie folgt angegeben: 1608 betätigte Infektionen, davon vermutlich 440 Genesene und 63 Todesfälle.

So stieg die Zahl der Infektionen in den von der Autonomen Verwaltung kontrollierten Gebieten auf 171 Fälle, darunter 10 Todesfälle, während sich die Zahl der Infektionen in den Gebieten des syrischen Regimes auf 1.432 Fälle  steigerte, darunter 55 Todesfälle. Für das Gebiet der Opposition im Nordwesten Syriens werden 50 Fälle angegeben.

All diese Zahlen, die von den zuständigen Behörden, insbesondere vom Gesundheitsministerium des syrischen Regimes, und die kurdisch geführte Autonomie Verwaltungin und  Assistance coordination UNit veröffentlicht wurden, zeigen jedoch nicht, dass sich das neue Virus in Syrien verbreitet hat. Dies geht aus anderen Quellen hervor. Das Gesundheitsministerium des syrischen Regimes kündigte am Montag, dem  10. August, die Registrierung von 67 neuen Infektionen in seinen Regionen an, während die syrischen Oppositionsgebiete im Nordwesten Syriens eine Infektion verzeichnete.

Angesichts des Ausbruchs des Virus im Gouvernement Damaskus und auf dem Land hatte das „Regime Health“ die Aussetzung der Gemeinde- und Freitagsgebete in den beiden Gouvernoraten für einen Zeitraum von 15 Tagen ab Montag, dem 3. August, angekündigt. Die offiziellen Zahlen zeigen, dass die grafische Kurve der Corona-Infektionen in Syrien stetig gestiegen ist, da die Zahl der seit Juni bis Anfang August registrierten Fälle 1110 erreichte. Im Vergleich dazu lag die Zahl der Infektionen in der Zeit zwischen der ersten bekannten Infektion in Syrien am 22. März und Ende Mai noch bei 145 Fällen.

Statistiken zeigen nicht die Realität

Schließlich räumte das Gesundheitsministerium der Regierung des syrischen Regimes ein, dass die Statistiken zu den Coronavirus-Infektionen nicht die Realität des Ausbruchs in seinen Kontrollbereichen widerspiegeln. Dabei machte es die gegen das Regime verhängten Sanktionen für dieses Defizit verantwortlich.

Das Ministerium sagte am Donnerstag,  dem 6. August, dass „die Bedrohung durch die Corona-Pandemie in Syrien zunimmt und 717 Infektionen in 10 Gouvernoraten verzeichnet werden“. Es erklärte, dass die im Land festgestellten Infektionen „nur für Fälle gelten, deren Ergebnisse mittels Labortests durch eine (PCR-) Untersuchung nachgewiesen wurden, während andere Fälle nicht verifiziert wurden.“

In einer Erklärung zu den Entwicklungen bei der Reaktion auf das Coronavirus wies das Ministerium darauf hin, dass es „angesichts der Wirtschaftsblockade, die das Land mit seinem Gesundheitssektor und allen dazu gehörenden Komponenten trifft, nicht in der Lage ist, eine allgemeine Umfrage in allen Gouvernoraten durchzuführen“.

Stetiger Anstieg der Todesfälle

Laut Recherchen von  Syrian in Context lässt sich über „Corona in Syrien“ sagen: In Ermangelung verlässlicher Daten ist Syrien gezwungen, das Ausmaß des Ausbruchs aus den verfügbaren Informationen abzuleiten. Laut dem Direktor des syrischen „Board of Deceased“ waren die Todesfälle im Land seit dem 10. Juli exponentiell gestiegen. In der Tat verzeichneten Social-Media-Seiten, auf denen Todesanzeigen aus der Region Damaskus gesammelt wurden, einen stetigen Anstieg der Todesfälle. Als Reaktion auf Gerüchte über eine wachsende Zahl von Todesfällen gab das Amt des Gouvernements Damaskus bekannt, es habe am 1. August 107 Todesfälle verzeichnet und 104 Todesfälle am 31. Juli. Für den  30. und 29. des gleichen Monats wurden 127 und 133 Fälle genannt.

Der Vergleich dieser Zahlen mit den durchschnittlichen täglichen Todesfällen in der Hauptstadt in früheren Jahren, die 2016 bei 25 liegen sollen, deutet auf eine Bandbreite von 79 bis 108 Todesfällen in der Hauptstadt am vergangenen Wochenende hin. Diese Zahlen werden weiter durch die Behauptungen eines Arztes in einem der wichtigsten COVID-19-Krankenhäuser des Landes untermauert, der angibt, in nur einer Woche 800 Todesfälle in seiner Einrichtung verzeichnet zu haben.

Preiserhöhung um 200 Prozent

Es gibt ernste Sorgen, weil für Syrerinnen und Syrer – neun von zehn von ihnen leben von 1 USD oder weniger pro Tag – die Krankheit eine besondere Gefährdung bedeutet, wenn sie davon betroffen sind.

„Wir hatten bisher keine großen Zahlen im Land, aber wir können uns damit nicht trösten“, sagte Dr. Richard Brennan in einer Pressemitteilung für UN news als regionaler Notfalldirektor der Region Eastern Mediterranean der Weltgesundheitsorganisation (WHO).  „Syrien ist heute mit einer beispiellosen Hungerkrise konfrontiert, da die Preise für Grundnahrungsmittel selbst auf dem Höhepunkt des neunjährigen Konflikts ein unfassbares Niveau erreichen“, sagte Sprecherin Elisabeth Byrs und stellte fest, dass die Lebensmittelpreise in weniger als einem Jahr um 200 Prozent gestiegen sind.

Nach zehn Jahren Krieg wurden mehr als die Hälfte der öffentlichen Krankenhäuser und Gesundheitszentren in Syrien außer Betrieb gesetzt. Mit verheerenden Folgen. In allen  Städten – von  Damascus bis Aleppo, von Humms bis Deir Ezzor und Raqqa  – wurden die Einrichtungen in Schutt und Asche gelegt, darunter ein 400-Betten-Nationalkrankenhaus in Homs und ein 600-Betten-Komplex in Ost-Aleppo, in dem sich früher eine Krankenpflegeschule und Fachzentren für Augenheilkunde, Pädiatrie und Nephrologie befanden. 

Hinzu kommt, dass sehr viele der Mitarbeitenden im Gesundheitssystem entweder gestorben, in einem Gefängnis oder aus dem Land geflohen sind. Allein in Deutschland gibt es 4486 syrische Ärzte. 

Die Zeitung Al-Watan, die dem Assad-Regime nahe steht, zitierte den Generaldirektor der syrischen Kommission für medizinische Spezialisierungen (Yunus Qabalan) mit den Worten: „Die Zahl der Ärzte, die das Land verlassen haben, hat in den letzten Jahren 40 Prozent erreicht, während der Anteil neuer Ärzte unter ihnen etwa 80 Prozent beträgt.“

Für 10.000 Menschen 1,4 Ärzte

Zahlen der Idlib Health Directorate, die der syrischen Interimsregierung (der Opposition) angeschlossen ist, zeigen, dass im Nordwesten Syriens schätzungsweise 600 Ärzte insgesamt vier Millionen Menschen medizinisch versorgen. Das sind durchschnittlich 1,4 Ärzte pro 10.000 Menschen. Die Anzahl der Betten auf den Intensivstationen beträgt 201. Das wäre ein Bett pro 20.788 Personen. Die Anzahl der Atemschutzmasken für Erwachsene, die eine entscheidende Rolle bei der Behandlung von Infektionen mit „Corona“ spielen, liegt bei 95 gegenüber 30 bei Kindern.

Auf seiner Facebook-Seite erwähnt das „Damascus.medical.Association allein im August „35 Ärzte, von denen behauptet wurde, sie seien alle nach einer Infektion mit dem Coronavirus gestorben.

Die Syrer haben nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie arbeiten weiter wie bisher und riskieren, an einer Corona-Infektion zu sterben. Oder sie bleiben zuhause und riskieren, den Hungertod zu sterben.

Am Freitag, dem 14. August bekomme ich um  3 Uhr in der Frühe Nachricht von einer Verwandten.  Sie sagt mir, dass jemand aus unserer Familie gestorben ist. Er war die Tage davor krank. Sie haben nach einem Arzt gesucht.  Aber auch die Ärzte haben Angst von Corona. So ist niemand gekommen. Seine Frau hat wahrscheinlich auch Corona. Sie soll einfach zuhause bleiben. Dann wird es besser werden. Aber ich weiß, dass sie das sagen, weil es keine Ärzte gibt.

Alles was uns bleibt, ist Hoffen und Beten. 

 

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Hussam studierte in Damaskus Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen. Parallel dazu arbeitete er als schreibender Journalist. Seit 2015 lebt er in Deutschland. Er ist Gründer und Chefredakteur von kohero. „Das Magazin nicht nur mein Traum ist, sondern es macht mich aus. Wir sind eine Brücke zwischen unterschiedlichen Kulturen.“

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