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Geschichte des Menschen, der ein Flüchtling sein musste – Teil 2

Der Verband der Schriftsteller und Schriftstellerinnen Hamburg wollte eine Plattform zum Publizieren für geflüchtete Autorinnen und Autoren bieten. Daher hat er ein Buch veröffentlicht. Der Titel ist “Fluchtpunkt Hamburg. Texte im Exil. Eine Anthologie des Verbands deutscher Schriftsteller und Schriftstellerinnen – Landesverband Hamburg – zu Flucht und Ankunft”. 22 Autoren mit Migrationshintergrund haben entweder auf Deutsch oder in ihrer Muttersprache ihre Geschichte, Meinung oder ein Gedicht geschrieben. Einer von Ihnen: der syrische Journalist Hussam Alzaher. Seine "Geschichte des Menschen, der ein Flüchtling sein musste" wird hier mit dem zweiten Teil als Fortsetzung  (Teil 1 veröffentlicht am 6.5.2018 im "Flüchtling-Magazin") vorgestellt:

„Ich bin hier in diesem Land seit fast zwei Jahren, aber bis jetzt ist mein Deutsch nicht gut. Bis jetzt muss jemand korrigieren, was ich geschrieben habe: Ich weiß nicht warum, dumm bin ich nicht. Aber vielleicht kommt es daher, weil die deutsche Sprache sehr genau ist, und ich bin das nicht. Oder vielleicht gibt es auch andere Gründe, aber auf Deutsch gibt es kaum ein Vielleicht, nur Sicherheit und ein Genau.  Aber ich bin nicht in Sicherheit und auch kein Mensch der Sicherheit, weil ich ein Flüchtling bin, weil ich zwischen Vergangenheit und Zukunft verloren ging. Und ich habe nur meine Vergangenheit und mein Land und meine Geschichte und meine Familie und meine Träume in meinem Land.

„Es gibt keine Worte auf der Welt, die das beschreiben können, die Menschlichkeit“

Meine Gedanken gehen so: Wo bin ich? Wohin muss ich gehen? Warum ist mit mir das passiert? Was wird in Zukunft passieren? Und auch, weil alle Angst vor mir haben, und fast alle Länder mich nicht empfangen und aufnehmen dürfen. Sie sprechen über mich und meinesgleichen, als ob wir eine Infektionskrankheit seien.

Das haben die Regierungen gesagt, aber die Völker haben anders reagiert, sie haben gerufen: Willkommen, Refugee! Und sie haben uns am Hauptbahnhof empfangen, und sie haben uns ihre Gefühle und ihre Zeit gegeben und ihre Unterstützung und vieles andere. Ich kann es gar nicht beschreiben, weil es keine Worte auf der Welt gibt, die das beschreiben könnten, die Menschlichkeit. Und ich möchte mich bedanken bei ihren Gewissen für all die Gefühle und die Zeit.

Sechs Millionen Deutsche haben uns geholfen, sechs Millionen geben uns alles. Ein Dankeschön für ihre Menschlichkeit! Mit ihnen können wir Integration schaffen. Sie sind unsere Mütter, unsere Familie, nicht Merkel.
Und auch, weil es jeden Tag ein neues Gesetz gibt, und mit jedem neuen Gesetz hat die Regierung uns, den Flüchtlingen, unsere Rechte weiter genommen oder beschnitten. Dabei müsste ich doch wissen, was ich zu tun und zu lassen habe. Aber meine Rechte darf ich nicht erfahren, weil ich die deutsche Sprache nicht verstehen kann. Und natürlich auch deshalb nicht, weil wir der Grund sind, warum die Rechtsextremen in Europa expandieren. Und was macht die Religion?

„Was bedeutet Integration? Wer bestimmt das?“

Natürlich nehmen sie uns unsere Rechte fort. Egal, wir sind Flüchtlinge und dürfen nicht wählen, unsere Stimmen haben keinen Wert. Egal, wir werden morgen (in Zukunft, irgendwann) in unsere Länder zurückkehren, wenn die Kriege in der Heimat beendet sind, aber wann ist das? In der Zukunft. Wir müssen Geduld haben, und bis zu diesem Zeitpunkt müssen wir die Integration schaffen, aber was bedeutet Integration?

Wer weiß das? Wer bestimmt das? Natürlich weiß es die Regierung, aber es gibt zwei
Bedeutungen bei der Regierung, eine vor den Wahlen und eine nach den Wahlen, weil die Regierung nur für Wahlen arbeitet.

Hallo, was? Du darfst das nicht sagen. Meine innere Stimme hat mir das gesagt, weil ich nicht die Gewohnheit habe, dass ich die Regierung kritisiere, und auch weil ich ein Flüchtling bin, und meine Meinung ist nicht richtig, und ich darf nichts sagen oder kritisieren, bis ich richtig Deutsch sprechen kann, eine Freundin hat mir das auch gesagt.
Aber jetzt, was ist Integration für die Regierung? Die Geflüchteten müssen die deutsche Kultur annehmen, und nicht nur Respekt haben. Sondern wir müssen auch die deutsche Kultur atmen, weil die deutsche Kultur nun mal die Leitkultur ist, wie der Innenminister geschrieben hat. Und natürlich sind die Geflüchteten von der Regierung unterdrückt worden, weil die Geflüchteten ohne Stress keine Integration schaffen können. Das war vor den Wahlen, aber nach den Wahlen bedeutet Integration für die Regierung, dass die Flüchtlinge einen Job finden und arbeiten, und sie können dann Steuern bezahlen. Erst dann haben sie die Integration geschafft. Alle anderen Sachen sind nicht wichtig.

„Integration ist für mich, wenn ich zwischen schnacken und reden vergleichen kann“

Aber was bedeutet das für Geflüchtete? Oh, oh, jeder hat eine besondere Weise der Integration. Eine Integration ist für mich, wenn ich die deutsche Sprache beherrsche, und mit den Deutschen in Kontakt komme. Etwas anderes: Integration ist für mich, wenn ich zwischen schnacken und reden vergleichen kann.
Ich glaube, dass es keine Unterschiede gibt, aber schnacken ist eine besondere Hamburger Sprache.
Oder: Integration ist für mich, wenn ich weiß, was der Unterschied ist zwischen ’nicht schlecht und gut? Warum haben die Deutschen ’nicht schlecht‘ mehr als ‚gut‘ verwendet? Vielleicht gibt es keine Sache, die gut ist, oder vielleicht bedeutet ’nicht schlecht‘ auch einfach gut, dann haben die Deutschen viel Hoffnung, weil es mehrere
‚Gut‘ gibt oder vielleicht … etwas anderes?

Integration ist für mich, wenn ich Freunde finde, oder Freundschaft schließen kann. Aber Freundschaft ist geöffnet, offen, nicht geschlossen. Kann man also sagen: „Wenn ich Freundschaft öffnen kann?“ Und weiter: Integration bedeutet für mich, dass ich alle Sachen langsam machen kann und nur die Sprache schnell reden muss. Ich glaube, das wird nicht einfach sein, weil wir keine Geduld haben.

„Integration bedeutet für mich, wenn ich Respekt für deine Wahl habe“

Und weiter: Integration bedeutet für mich, dass ich einen Ausbildungsplatz habe. Und weiter: Integration bedeutet es für mich, wenn ich die Liebe finden kann. Und weiter: Integration bedeutet für mich, wenn ich mich mit meiner Familie treffen darf. Und jetzt darf ich mich eben nicht mit meiner Familie treffen. Meine Familie lebt in Jordanien, und ich habe „Subsidiären Schutz“. Ich bin von dem Gesetz verurteilt, dass ich hier alleine ohne meine Familie bis 2018 leben darf, und ich bin hier seit zwei Jahren, von 2015 an.

Und weiter: Integration bedeutet für mich, wenn ich nur Pasta und Kartoffel essen kann, und nur Apfelsaft und Bier trinke. Und weiter: Integration bedeutet für mich, wenn ich Respekt für deine Wahl habe, und ich frage: Oder? Du möchtest Kaffee, oder? Das ist für mich sehr schwierig, weil wir zu Hause nur mit einer Wahl gelebt haben, wir tranken alle Tee, oder alle Kaffee. Wenn wir zusammen saßen, dann tranken wir alle Tee oder Kaffee, wir mussten alle dieselben Gedanken trinken, wir mussten vom selben Teller essen, alle Sachen mussten wir genauso machen, wie die Gesellschaft es wollte, nicht was wir wollten. Die Gesellschaft ist wichtiger als wir, oder unsere Wünsche.

„Es gibt Dialoge, um zu verstehen: Wir alle sind nur Menschen“

Wir wurden von der Gesellschaft in die Konformität gezwungen. Eine andere Integration bedeutet für mich, einen Hund zu haben. Und weiter: Integration bedeutet für mich, wenn ich einen Job habe und Steuern zahlen kann. Ich meine zu mir selbst: Du hast eine Ansicht wie die Regierung. Und weiter: Integration bedeutet für mich, wenn ich die deutsche Kultur begreifen kann.

Ich frage aber: welche Kultur? Hanseatische Kultur oder bayrische Kultur oder welche?
Integration bedeutet für mich, wenn ich keine Zeit habe, so wie die Deutschen. Und weiter: Integration bedeutet für mich, dass es für uns nicht schwer sein wird, weil jeder Kontakt mit einem Deutschen bereits Integration ist. Und weiter: Integration bedeutet es für mich, wenn ich machen kann, was ich möchte, ohne dass ich es als Flüchtling mache, sondern als der Mensch, der ich bin.

Es gibt viele andere Meinungen, weil wir nicht gleich sind. Wir sind alle Flüchtlinge, aber wir sind sehr unterschiedliche Menschen. Wir kommen mit unserer Kultur und unserer Meinung und den Gedanken hierher, und wir können nicht alles an der deutschen Kultur übernehmen. Wir schaffen Integration, wenn wir miteinander schnacken können, wenn wir Respekt für einander und für unseren Glauben und unsere Kultur haben, wenn wir über alles diskutieren können, um einander kennenzulernen. Wenn wir glauben, dass wir (Deutsche und Geflüchtete) nur Menschen sind und nicht Engel oder Dämonen. Denn die Menschen machen Fehler, vielleicht viele und vielleicht wenige. Wir sind alle nur Menschen. Es gibt Dialoge, um zu verstehen: Wir alle sind nur Menschen.

(Fortsetzung von Teil 1)

Diese Text hat auf Buch “ Flüchtling Hamburg Texte im Exil

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Hussam studierte in Damaskus Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen. Parallel dazu arbeitete er als schreibender Journalist. Seit 2015 lebt er in Deutschland. Er ist Gründer und Chefredakteur von kohero. „Das Magazin nicht nur mein Traum ist, sondern es macht mich aus. Wir sind eine Brücke zwischen unterschiedlichen Kulturen.“

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