Aller Anfang ist schwer
Eigentlich habe ich gerade vor zwei Monaten angefangen Fahrradfahren zu lernen. Das fiel mir nicht leicht und war für mich in meinem Alter eine große Herausforderung. Ich bekam immer Angst, wenn Fußgänger, andere Fahrräder oder Autos, vor mir oder hinter mir im Weg waren. Ich konnte nicht das Gleichgewicht halten. Am Anfang konnte ich nicht glauben, jemals auf einem so schmalen Fahrzeug mit nur zwei Rädern geradeaus fahren zu können, ohne umzufallen. Am Anfang habe ich mich immer geschämt, wenn jemand, gesehen hat, wie ich auf der Straße Fahrrad fuhr und es nicht hinbekommen habe. Ich habe mir vorgestellt, was die anderen wohl sagen, wenn sie sehen, dass eine erwachsene Frau kein Fahrrad fahren kann, oder dass sie mich vielleicht sogar auslachen. Ich habe mich klein und schwach gefühlt in einem Land in dem Fahrradfahren als selbstverständlich angesehen wird. Am Anfang bin ich zwei Monate lang nur in kleinen Straßen gefahren, wo keine Autos bzw. Fahrräder waren und nicht zu viele Menschen unterwegs waren.
Als würde ich ein Flugzeug am Himmel fliegen
Heute war der erste Tag an dem ich alleine mit dem Fahrrad zur Bibliothek, der Bücherhalle Hamburg, gefahren bin. Ich habe es nicht mit der Google-Map-App gefunden, aber eine Frau hat mir geholfen und mir dem Weg gewiesen. Einerseits hatte ich sehr große Angst, andererseits war ich auch sehr aufgeregt, glücklich und stolz auf mich. Je schneller ich gefahren bin, desto freier habe ich mich gefühlt. Am Anfang wirkten die Straßen noch sehr schmal auf mich, aber jetzt finde ich die gleichen Straßen sehr breit. Am Anfang hat das Fahrrad mich kontrolliert, aber heute habe ich das Fahrrad kontrolliert. Heute bin ich als erwachsene Frau mit dem Fahrrad gefahren, aber ich habe mich nicht gefühlt, als würde ich Fahrrad fahren, sondern als würde ich ein Flugzeug am Himmel fliegen.
Frauenrechte in Afghanistan
In meinem Heimatland, und insbesondere in meinem Dorf, haben Frauen keine Freiheit. Sie dürfen nicht selbst entscheiden, was sie tragen, ob sie nach draußen gehen, ob sie einkaufen gehen, oder ihre Familie besuchen. Für all diese Fragen benötigen sie die Erlaubnis eines Mannes: entweder von ihrem Ehemann, wenn sie verheiratet sind, oder von ihrem Vater oder Bruder, wenn sie ledig sind. Ich habe unter dieser Situation sehr gelitten, nicht nur wegen meiner selbst, sondern auch wegen anderer Frauen, die ich kannte oder die in meinem Dorf lebten.
Kämpfen um finanzielle Unabhängigkeit
Von 2008 bis 2009 habe ich in meinem Dorf für das UN-Habitat als Lehrerin für 50 nicht-alphabetisierte Frauen gearbeitet. Damals war ich vielleicht 14 Jahre alt (bei uns ist das Alter nicht sehr wichtig und weil meine Eltern nicht lesen und schreiben konnten, ist mein Geburtstag nicht eindeutig bekannt). Ich habe über zwei Jahre mit den Frauen bei uns Zuhause gearbeitet. Die Frauen haben nicht nur Lesen und Schreiben gelernt. Meine Organisation bot ihnen auch andere Möglichkeiten: zum Beispiel lernten sie Handarbeit, etwa verschiedene Arten, mit einer Maschine oder von Hand zu nähen. Wir hatten auch eine kleine Kreditbank für Frauen. Die Frauen konnten sich von dieser Bank ein bisschen Geld ausleihen, um eine Geschäftsidee zu verwirklichen und selbstständig zu arbeiten. Ein Schritt zu ihrer persönlichen Freiheit. Auf diese Weise mussten sie nicht immer ihre Männer nach Geld fragen, wenn sie etwas Geld für sich selbst brauchten, sondern konnten es selbst verdienen. Das wurde mit etwas Geld vom UN-Habitat unterstützt, aber vor allem sollten die Frauen jeden Monat zwei Mal 30 Afghani auf ein Konto einzahlen. Etwa so, wie wenn man in Deutschland jeden Monat dreißig Euro spart. Dadurch hatten wir genug Geld, um Frauen mit der Eröffnung eines kleinen Geschäfts unterstützen zu können.
Die schönsten Tage in meinem Leben
In dieser Organisation habe ich mich viel für Frauen und ihre Freiheit eingesetzt, damit Frauen auf ihren eigenen Beinen stehen konnten. Dadurch waren sie nicht mehr von Männern abhängig, sondern konnten freie und selbstständige Frauen sein konnten. Frauen, die keine Schule besucht haben oder sie nicht besuchen durften, haben Lesen und Schreiben gelernt.
Es freute mich immer sehr, wenn eine der Schülerinnen, eine erwachsene Frau oder ein Mädchen, meiner Klasse gelernt hatte zu lesen. Manchmal habe ich einem Kind einen Brief mit nach Hause gegeben und um eine Antwort gebeten (bei uns gibt es keine Post wie hier in Deutschland, wo man einfach einen Brief im Umschlag verschicken kann). Die Tage, an denen ich von den Frauen, die zu Beginn gar nicht lesen und schreiben konnten, eine Antwort bekam, waren die schönsten Tage in meinem Leben.
Eine Antwort
Herzlichen Glückwunsch. Fahrradfahren ist so eine schöne Sache. Toll, dass du es geschafft hast. Und dazu noch ein so großartiger Bericht. Ich habe es oft miterlebt, wie wichtig und empowernd es sein kann, radeln zu lernen.
Wir #BIKEYGEES haben hier in Berlin und Brandenburg schon über 1000 Frauen und Mädchen aufs Rad gebracht. Am Anfang ist immer etwas Angst dabei.
Ich wünsche dir noch viele spannende Abenteuer mit dem Rad und immer freie, sichere Wege. Liebe Grüße, Annette
#cyclingisfreedom