2018: In der Fremde I
Yara M. lässt ihren Blick über die vielen Passanten in dieser quirligen Straße mitten in Berlin-Kreuzberg schweifen. Sie nimmt einen Schluck grünen Tee am Tisch vor dem bunten arabischen Laden und drückt die Zigarette in einen Ascher, der mit Kamelen dekoriert ist. „Irgendwas ist mir abhanden gekommen, was früher zu mir gehört hat. Begonnen hat dieser Verlust schon, als ich Syrien verlassen musste. Nun suche ich danach, aber ich weiß nicht, ob es jemals wiederkommen wird“.
Yara ist deprimiert. Mit dem Verlust hat sich auch ihr Schreiben verändert. In Syrien war sie bereits eine anerkannte Schriftstellerin und hatte für ihre Kurzgeschichten sogar eine Auszeichnung erhalten. Dann verließ sie das Land. Durch ein Stipendium schaffte sie den Sprung nach Deutschland. Später folgte der Umzug nach Berlin. Aber heimisch fühlt sie sich hier nicht. „Ein Gefühl der Zugehörigkeit habe ich hier noch nicht erlebt. Deshalb fällt es mir nun so schwer, als Schriftstellerin wieder Zugang zu meiner eigenen Identität zu finden“, stellt sie fest.
Erinnerungen an Bürgerkrieg und Kindheit werden bewusst ausgeblendet
Wenn sie in Berlin schreibt, dann sind es eher die alltäglichen, kleinen Dinge, die die Buchseiten füllen. Begebenheiten, die sie im Alltag beobachtet und Begegnungen mit skurrilen Typen, im Job Center zum Beispiel oder in einer der vielen Bars. Für Yara ist dieses Schreiben auch ein Versuch, mit der deutschen Sprache vertrauter zu werden.
Sie nippt an ihrem Tee und zündet sich eine neue Zigarette an. „Auch im Schreiben etwas Neues anzufangen – das war mir in dieser Situation wichtig. Meine syrische Identität und Erinnerungen an meine Kindheit – das sind Themen, die ich jetzt erstmal in den Hintergrund schiebe. Vielleicht kann ich irgendwann wieder besser damit umgehen.“
Ihr Blick wirkt jetzt angestrengt. „Gedanken an den Bürgerkrieg verdränge ich. Momentan fühle ich mich unfähig, darüber zu schreiben“. Das Gespräch fällt ihr offenbar schwer. Sie verabschiedet sich höflich aber bestimmt und ohne zurück zu blicken verliert sie sich in die Menschenmenge.
1945: In der Fremde II
Marga Karkowski steht mit ihren beiden Kindern am Hafen von Pillau. Bei 20 Grad minus und einem eisigen Wind harren sie hier jetzt aus. Fast ein halbes Jahr sind sie bereits auf der Flucht aus Ostpreußen. Margas Familie musste alles zurücklassen. So wie viele andere auch, die dort in Bauerndörfern oder auf Gutshöfen gelebt hatten. Das Wenige, was sie mitnehmen konnten, wurde auf hochbeladene Planwagen gepackt. Mit Schlitten und manchmal auch zu Fuß machten sie sich auf den Weg in Richtung Ostsee nach Königsberg und weiter nach Pillau, einem Ort mit zahlreichen Hafenbecken. Aber viele, darunter auch viele Kinder, schafften es nicht. Sie starben an Unterernährung und Wunden.
Am Hafen, wo Marga jetzt steht, wird sie von Matrose Wilhelm beobachtet. Er denkt an die unzähligen Menschen, die hier die letzte Rettung suchen: den Hafen von Swinemünde auf Usedom. Von dort geht es weiter mit dem Zug oder Schiff nach Flensburg, Lübeck oder Kiel. Wilhelm hat auf einem Kriegsschiff heute die Aufgabe, die Laderäume mit Stroh auszulegen. Das Deck ist bereits überfüllt. Hunderte von Menschen können zum Teil nur kauern oder sitzen. An Liegen ist nicht zu denken. „Hoffentlich überleben sie die Fahrt“, denkt Wilhelm und weiß zugleich, dass diese Menschen im Westen mit einem großen Problem konfrontiert werden. Er hat schon gehört, dass viele der Vertriebenen im Westen auf blanken Hass treffen. Wüste Anfeindungen uns Rassismus gehören zum Alltag.
Die erfahrene Ablehnung wirkt bis heute nach
Der südschleswigsche Autor Tage Mortensen schrieb wenig später, 1946, über die Flüchtlinge, die er hämisch „Hitlers Gäste“ nannte: „Sowohl rassenmäßig als auch in kultureller und geistiger Hinsicht sind die Vertriebenen artfremd in Südschleswig“. Und noch tiefer ins Repertoire griff der Inhaber des Weingutes Weil in Kiedrich am Rhein. Er wurde zu 1000 Mark Strafe verurteilt, weil er im Ärger sagte „Ihr Flüchtlinge gehört alle nach Auschwitz in den Kasten“.
Marga wird später nicht vergessen, auf wie viel Ablehnung sie und andere gestoßen sind – obwohl sie schwerstes Leid getragen hatten. Obwohl sie dieselbe Sprache sprachen. Obwohl sie zur gleichen Kultur und manchmal zur gleichen Konfession gehörten. Bis zu 14 Millionen Flüchtende und Vertriebene mussten im verbliebenen Deutschland unterkommen. Und ein Klischee machte schnell die Runde: „verlaust, zerlumpt, Polacken und Rucksackdeutsche“.
Noch heute, im hohen Alter, muss Marga an die erfahrene Ablehnung denken. Die Auswirkungen einer tödlichen Mischung aus Ignoranz und Fremdenfeindlichkeit wirken bis heute nach.
Weder fremd noch vertraut
Zurück zu Yara in Berlin. Wenn sie am Schreibtisch sitzt und nach Worten sucht, um ihr Leben als syrische Autorin in Deutschland zu beschreiben, dann kommt sie an dem Begriff Exil nicht vorbei. Aber viel anfangen kann sie damit nicht. Was sie erlebt, ist eine globalisierte Welt, in der sich Verbindungen über Medien und Facebook in alle Richtungen herstellen lassen. Exil bedeutet: in der Fremde weilen. Dazu aber muss man fühlen und unterscheiden können, was überhaupt noch fremd und was vertraut ist. Für Yara ist jetzt alles irgendwie vernetzt. Die alten Orientierungspunkte, an denen sie früher ihr Leben ausgerichtet hat, passen hier nicht mehr. Und alte Begriffe wie Exil auch nicht. Und Marga? Mit welchen Worten könnte sie ausdrücken, wie das war – als Fremde mit der gleichen Sprache und Kultur unter Deutschen zu leben?
Andere Frauen wie Marga damals und wie Yara heute werden ihr Lebensgefühl vielleicht anders beschreiben. Leicht und unbeschwert erleben die wenigsten das Ankommen in der neuen Umgebung. Denn was sich in dieser globalisierten Welt weiterhin verbreitet, sind Hass und Intoleranz. Und das sehr schnell.
Quelle der zeitgeschichtlichen Hintergrundinformationen: NDR Kultur/ Dirk Hempel 22.01.2015
Die Geschichten von Yara M. aus Syrien und Marga Karkowski aus Ostpreußen sind in dieser Form fiktiv, jedoch angeregt von zahlreichen Fluchtgeschichten aus jüngster und vergangener Zeit.