Doch wie funktioniert dies im Detail? Mit welchen Schwierigkeiten sieht sich SEGEMI konfrontiert? Und an wen richtet sich das Angebot genau? Diese und weitere spannende Fragen beantwortet Leon Sautier in dem folgenden ausführlichen Interview.
SEGEMI bedeutet die Verbesserung der psychiatrischen, psychotherapeutischen und psychosozialen Versorgung
Stellen Sie sich doch einmal kurz vor!
Mein Name ist Leon Sautier. Ich habe hier in Hamburg Psychologie studiert und nach meinem Studium die langjährige Ausbildung zum Psychotherapeuten begonnen. Um die Ausbildung abzuschließen, müssen wir viele Psychotherapien durchführen. Ich habe dabei früh versucht, auch geflüchteten Menschen mit psychischen Erkrankungen eine Psychotherapie zu ermöglichen.
Seit wann arbeiten Sie schon für SEGEMI?
Ich habe den Verein im September 2015 mitgegründet, bin also von Anfang an mit dabei. Ich bin Beisitzer im Vorstand von SEGEMI, der sich aus insgesamt sechs Mitgliedern zusammensetzt. Wir alle arbeiten von Anfang an ehrenamtlich im Vorstand.
„Für Geflüchtete mit psychischen Problemen ist es unglaublich schwer ist, Zugang zu einer psychotherapeutischen oder psychiatrischen Versorgung zu erhalten.“
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen solchen Verein ins Leben zu rufen?
Fast alle Gründungsmitglieder arbeiten als Psychiater oder Psychotherapeuten und haben bereits vor der Gründung von SEGEMI in verschiedenen Settings mit psychisch belasteten Geflüchteten zu tun gehabt. Unsere Erfahrungen haben uns gezeigt, dass es für Geflüchtete mit psychischen Problemen unglaublich schwer ist, Zugang zu einer psychotherapeutischen oder psychiatrischen Versorgung zu erhalten. Und während in vielen Städten Deutschlands bereits seit Jahren psychosoziale Zentren und Netzwerke für psychisch belastete Geflüchtete bestehen, waren wir hier in Hamburg vor zwei Jahren noch ganz am Anfang. Das hat uns dazu motiviert, neue Angebote und Strukturen zu schaffen. So kam es dann zur Gründung von SEGEMI.
Wofür steht SEGEMI?
SEGEMI bedeutet „Seelische Gesundheit, Migration und Flucht e.V.“. Unser übergeordnetes Ziel ist es, die seelische Gesundheit von den hier in Hamburg lebenden Geflüchteten, aber auch allgemein von Menschen mit Migrationshintergrund, zu erhalten und zu fördern. Das heißt letztlich, dass wir die psychiatrische, psychotherapeutische und psychosoziale Versorgung dieser Zielgruppe verbessern wollen. Dafür steht SEGEMI.
Sprachbarrieren – die größte Herausforderung
Mit welchen Schwierigkeiten sehen Sie sich konfrontiert?
Die Betroffenen wissen häufig nicht, an wen sie sich wenden sollen und welche Möglichkeiten der Behandlung es überhaupt gibt. Nicht selten können sie ihre Symptome auch gar nicht richtig verstehen und erklären. Viele der Betroffenen schämen sich und nehmen erst dann Hilfe an, wenn der Leidensdruck kaum noch auszuhalten ist. Kontakt zu einer Psychiatrie aufzunehmen, ist nämlich häufig sehr abschreckend und stigmatisierend. Und unsere Erfahrung zeigt zudem, dass Psychotherapeuten und Psychiater ebenfalls Vorbehalte haben, was wir auch gut verstehen können. Die Arbeit mit geflüchteten Menschen ist für viele noch unbekannt.
Die kulturelle Diversität spielt in einer Psychotherapie durchaus eine wichtige Rolle: Wie gehe ich damit um, wenn mein Klient ein ganz anderes Weltbild und Weltverständnis hat als ich?
Auch die Arbeit zu dritt, also die Psychotherapie mit einem Übersetzer zusammen, kennen viele noch gar nicht. Die größte Schwierigkeit besteht jedoch in der Sprachbarriere. Zum einen können die Betroffenen selbst nicht einfach zum Hörer greifen und einen Termin vereinbaren. Und auch wenn sie es könnten: Der Zugang zu einer ambulanten Psychotherapie ist dadurch erschwert, dass die Krankenkassen zwar eine Psychotherapie bezahlen würden, nicht aber die dafür erforderliche Sprachmittlung. Das Ergebnis ist erschreckend: Viele Geflüchtete mit psychischen Erkrankungen bleiben unbehandelt.
„Unser Beratungsangebot richtet sich an alle Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus.“
Was ist Ihre Aufgabe im Verein?
Als Gründungs- und Vorstandsmitglied arbeite ich ehrenamtlich insbesondere daran, relevante Institutionen und die Öffentlichkeit über die besonderen Schwierigkeiten in der Versorgung von psychisch erkrankten Geflüchteten zu informieren. Ich spreche mit Vertretern von Berufsgruppen, die viel mit psychisch belasteten Geflüchteten zu tun haben, und mache sie auf unsere Angebote aufmerksam. Der Vorstand von SEGEMI hat im letzten Jahr wirklich sehr dafür gekämpft, dass unsere wichtigsten Angebote, wie etwa die Beratungs- und Koordinierungsstelle oder der Sprachmittlerpool, aufgebaut und durch Spenden- und Fördergelder finanziert werden konnten.
Was sind also Arbeitsschwerpunkte des Vereins?
Ein Schwerpunkt stellt unsere Arbeit in der psychosozialen Beratungs- und Koordinierungsstelle SEGEMI dar. Dort bieten wir sowohl erwachsenen Geflüchteten als auch Kindern und Jugendlichen mit psychischer Belastung eine Beratung an. Wir hören genau zu, klären den Bedarf ab, fangen Krisen auf, machen eine kultursensible Diagnostik und versuchen den Betroffenen zu helfen, die Unterstützung zu erhalten, die sie benötigen. Wir versuchen sozusagen, die Brücken zu den Weiterbehandlern zu bauen. Das kann eine Psychotherapie sein oder ein Termin bei einem Arzt, das kommt ganz darauf an.
Unser Beratungsangebot richtet sich an alle Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Unterstützt werden wir dabei von Sprachmittlern.
Wichtig ist es, zu betonen, dass wir selbst keine Behandlung anbieten. Wir möchten vielmehr die bestehenden Behandlungsstrukturen stärken, indem wir beraten und koordinieren und auch für unsere Fachkollegen ansprechbar sind, wenn diese nicht mehr weiter wissen.
Ein zweiter Schwerpunkt ist der Sprachmittlerpool. Mit Unterstützung des Hamburger Integrationsfonds können wir erstmals Psychotherapeuten und Psychiatern das Angebot machen, dass wir ihnen zur Behandlung nicht-deutschsprachiger Patienten die nötigen Sprachmittler organisieren und sogar finanzieren. Das ist bundesweit einmalig und bereits jetzt ein großer Erfolg.
Sprachmittlung zur Stärkung der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung
Was sind denn die häufigsten Diagnosen, die gestellt werden?
Etwa die Hälfte unserer Klienten erfüllen die Kriterien für eine Anpassungsstörung oder eine posttraumatische Belastungsstörung. Auch Depressionen und Angststörungen kommen sehr häufig vor. Doch im Vordergrund stehen für uns nicht nur die Diagnosen, sondern sehr häufig die besonderen Lebensbedingungen, unter denen sehr viele leben müssen. Getrennt von ihren Angehörigen und in völliger Ungewissheit, wie es weitergeht, ob sie bleiben dürfen oder bald in ihre Heimatländer abgeschoben werden. Diese Ungewissheit und Hilflosigkeit ist wirklich allgegenwärtig und macht auch uns oft sehr betroffen.
„Die Therapiegespräche können belastend sein und auch die Sprachmittler bedrücken“
Wie genau funktioniert das Prinzip des Sprachmittlerpools?
Ziel unseres Sprachmittlerpools ist es, die ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung zu stärken, indem wir qualifizierte Übersetzer zur Verfügung stellen und finanzieren. Niedergelassene Psychiater und Psychotherapeuten sind Teil des Gesundheitssystems und werden von den Krankenkassen bezahlt. Sie können sich zur Behandlung ihrer nicht-deutschsprachigen Patienten bei uns melden und einen unkomplizierten Antrag auf Sprachmittlung stellen. Wir vermitteln daraufhin einen geeigneten Übersetzer, finanzieren diesen und supervidieren – also begleiten und unterstützen – ihn im Verlauf der Behandlung. So eine Supervision ist uns sehr wichtig, da viele der Sprachmittler selbst Migrationserfahrungen haben. Die Therapiegespräche können belastend sein und auch die Sprachmittler bedrücken.
Welche Sprachen werden abgedeckt?
Derzeit können wir eine Sprachmittlung in insgesamt 22 Sprachen anbieten. Wir haben mehrere Sprachmittler für Arabisch, Farsi und Dari, aber auch viele exotische und seltene Sprachen aus dem afrikanischen Raum sind in unserem Pool. Und selbstverständlich Englisch, Spanisch, Französisch und Russisch.
Nach welchen Kriterien werden die Sprachmittler ausgewählt?
Das ist eine gute Frage, denn hinreichende Erfahrungen in der Übersetzung im Rahmen einer Psychotherapie konnten zu Beginn des Projektes nur wenige vorweisen. Aber sie sollten bereits Erfahrungen im Gesundheitswesen mitbringen, haben also beispielsweise schon bei ärztlichen Gesprächen in Kliniken übersetzt. Darauf aufbauend haben wir ihnen eine Fortbildung angeboten, in denen wir auf die Besonderheiten in diesem besonders sensiblen Arbeitsfeld eingegangen sind. Wichtig ist uns vor allem, dass die Sprachmittler kultursensibel und emphatisch sind und auch die Feinheiten mit übersetzen. Sie sollen den Psychiater oder den Psychotherapeuten bestmöglich unterstützen und ich finde, dass uns das bisher wirklich sehr gut gelingt.
Vorbehalte und Unsicherheiten durch Fortbildungen abbauen
Wie ist dieses Projekt bisher angelaufen? Wie ist die Resonanz?
Das Projekt ist sehr gut angelaufen und wurde bereits häufig in Anspruch genommen. Wir haben viele Anträge von Psychotherapeuten und Psychiatern erhalten. In den letzten drei Monaten konnten wir etwa 50 Geflüchteten die Möglichkeit geben, Leistungen vom Gesundheitssystem in Anspruch zu nehmen, die sie ohne das Angebot des Sprachmittlerpools wohl nicht erhalten hätten.
Können Sie noch mal auf die anderen Arbeitsschwerpunkte eingehen? Was ist beispielsweise mit den Fortbildungsangeboten?
Die Fortbildungsangebote sind tatsächlich sehr wichtig. Die Herausforderungen in der Arbeit mit psychisch belasteten Geflüchteten sind für viele einfach neu und unbekannt. Es gibt Vorbehalte und Unsicherheiten auch aufseiten der Behandler. Nicht nur die Unterschiede in Bezug auf die kulturellen Werte und Lebensvorstellungen sind dabei von Bedeutung: Viele haben einfach noch zu wenige Erfahrungen in der „Arbeit zu dritt“ gemacht und mit einem Übersetzer zusammengearbeitet. Wir bieten unseren Berufskollegen sowie anderen Berufsgruppen, die mit psychisch belasteten Geflüchteten zu tun haben, Fortbildungen zu interkulturellen Themen und vor allem der „Arbeit zu dritt“ an.
„Seelische Gesundheit als Voraussetzung für eine gelungene Integration“
Wie sind Ihre eigenen, subjektiven Erfahrungen?
Oh, diese sind durchweg positiv! Ich habe unglaublich viel gelernt. Viele Dinge, die mir vorher gar nicht so bewusst gewesen sind, auch über mich selbst und meinen kulturellen Hintergrund, meine eigenen Werte und Einstellungen. Ich empfinde die Arbeit mit Geflüchteten als eine große Bereicherung. Natürlich berührt es mich sehr und oft fühle ich mich hilflos angesichts der besonderen Lebensumstände und bin betroffen. Aber die Erfahrung des Schönen überwiegt und ich finde, dass man ganz viel bewegen und erreichen kann, wenn man sich auf die neuen Erfahrungen einlässt. Das spornt uns alle täglich an und motiviert uns weiterzumachen.
„Ich empfinde die Arbeit mit Geflüchteten als eine große Bereicherung.“
Was ist Ihre persönliche Motivation, für SEGEMI zu arbeiten?
Es geht mir um die Gerechtigkeit! Wenn Menschen so schwere Schicksale erleiden, unter schwersten Lebensbedingungen leben und in der Folge Symptome mit Krankheitswert entwickeln, dann steht für mich außer Frage, dass ihnen eine fachgerechte Behandlung ermöglicht werden sollte. Unser Gesundheitssystem steht jedoch in Teilen, etwa in Bezug auf die ambulante Psychotherapie, aufgrund der angesprochenen Schwierigkeiten nur den deutschsprachigen Mitgliedern unserer Gesellschaft zur Verfügung. Das empfinde ich als ungerecht.
Daran schließt sich für mich auch eine gesellschaftliche Frage an. In Deutschland wird von den zu uns migrierten Menschen erwartet, dass sie unsere Sprache lernen, unsere Kultur verstehen und sich integrieren. Doch wie soll man sich im Deutschkurs konzentrieren oder eine Ausbildung beginnen, wenn man sich aufgrund einer Depression oder einer Traumafolgestörung kaum konzentrieren kann oder durch plötzlich einschießende Erinnerungen, Bilder und Gefühle an das erfahrene und unverarbeitete Leid erinnert wird. Integration ist häufig nicht eine Frage des Wollens, sondern des Könnens und seelische Gesundheit sehe ich als eine wichtige Voraussetzung für eine gelungene Integration an.
Wie finanziert sich Segemi?
Wir sind zunächst in Vorleistung gegangen. Die Beratungssprechstunde wurde durch ehrenamtliches Engagement aufgebaut. Mit den Monaten konnten wir viele von der Wichtigkeit unserer Arbeit überzeugen und erhielten Spenden und Fördergelder, mit denen wir die Angebote ausbauen konnten. Die psychosozialen Zentren in den anderen Städten in Deutschland, mit denen wir uns mit der Zeit immer besser vernetzt haben, sind wie wir übrigens auch auf Spenden- und Fördergelder angewiesen. Wir freuen uns also immer sehr, wenn wir mit unserer Arbeit jemanden überzeugen können und sich jemand dazu entscheidet, uns durch eine Spende oder eine Mitgliedschaft zu unterstützen.