Ende 2018 charakterisiert Karim El-Gawhary Libyen im Tagesspiegel als „ein sich auflösender Staat, in dem gleichzeitig zwei rivalisierende Blöcke um die Macht ringen: die von der UNO anerkannte Regierung in Tripolis, im Westen des Landes, und die selbsternannte Regierung unter General Khalifa Haftar im östlichen Bengasi“. Libyen sei ein politisches Chaos. Zwar habe der IS sein Territorium im Osten verloren, was aber nicht bedeutet, dass die Terrororganisation endgültig aus dem Land verbannt wäre. Aus der europäischen Perspektive werde in Verbindung mit Libyen nur noch die Frage gestellt, wie man verhindert, dass Geflüchtete von dort über das Mittelmeer starten. Die dortige Küstenwache wird von der EU finanziell unterstützt.
Praktisch alle Frauen Opfer sexueller Gewalt
Nun zeigt eine neue Studie des UNHCR: Das Ausmaß der Gewalt gegen Geflüchtete in Libyen ist kaum vorstellbar. Wie der Spiegel zusammenfasst, wird fast jede Frau bei der Durchreise durch das Land Opfer sexueller Gewalt, aber auch viele Jungen und Männer. Migrant*innen werden brutal gefoltert, um Geld von den Familien zu erpressen. Die Methoden werden immer grausamer, da sich seit den schärferen EU-Kontrollen weniger mit dem Schleusen von Geflüchteten über das Mittelmeer verdienen lässt. Menschen sterben auf dem Weg Richtung Mittelmeer und in den libyschen Gefängnissen. Die Sterblichkeitsrate hat sich 2018 im Vergleich zu 2017 fast verdreifacht. Rund 670.000 Migranten und Flüchtlinge befinden sich nach Schätzungen der UNO zurzeit in Libyen.
Salah Ngab ist Journalist, kommt aus Libyen und lebt in Deutschland. Er kommentiert seit Längerem die Verhältnisse in seinem Heimatland und vor allem die Rolle der europäischen Politik seit dem Sturz des Diktators Gaddafi im Jahr 2011. Unser Autor Leonardo hat mit Salah gesprochen.
Freiheit aufgeben, um zu überleben
FM: Salah, was ist dir in deiner journalistischen Arbeit besonders wichtig?
Salah: Aus meiner Sicht bewegt sich die Welt immer mehr zum Besseren, verglichen mit dem, was sie vor mindestens hundert Jahren war. Es gibt aber immer noch viel Leid und Ungerechtigkeit auf dem Planeten, der aufgrund der Globalisierung zu einem kleinen Dorf geworden ist, in dem jedes Ereignis fast alle Einwohner betrifft. Weil die Medien- und Fernsehkanäle unter der Kontrolle der zahlungsfähigsten Menschen und Regierungen stehen, wissen wir aber nicht viel darüber. Ich finde es logisch, dass jemand auch die Geschichte der Armen erzählen sollte, die nur ihre Stimmen besitzen. In Libyen sieht man, dass die Menschen bereit sind, ihre Freiheit aufzugeben, um zu überleben, auch wenn das bedeutet, wieder in einer Diktatur zu leben, zum Beispiel unter Gaddafis Sohn.
FM: Wie viel Freiheit als Autor und Schriftsteller konntest du dir in Libyen unter Gaddafi erlauben?
Salah: Während der Gaddafi-Ära nutzte ich Pseudonyme, um für Online-Zeitungen zu schreiben, die von außerhalb Libyens betrieben wurden. Ich versteckte meine Persönlichkeit, obwohl ich wusste, dass die Geheimdienste mich beobachteten. Nach dem Zusammenbruch des Regimes hatten wir mehr Freiheit. Es dauerte aber nur zwei Jahre bis der Staat fast vollständig von den Islamisten, Salafisten und Muslimbrüdern beherrscht war, die uns fast keinen Raum und keine Möglichkeit geben, unsere Meinung zu äußern. Dabei spreche ich von mir und den liberalen Schriftstellern und Meinungsmachern.
Ein korruptes Land kann keine freie Presse hervorbringen
FM: Laut Reporter ohne Grenzen belegt Libyen den 162. Platz von 180 für den repressiven Umgang mit den Medien weltweit. Warum haben sich die Verhältnisse nach dem Sturz von Gaddafi nicht gebessert?
Salah: Ich muss hier etwas klarstellen. In der Gaddafi-Ära gab es keine wirkliche oder wirksame Presse. Sie wartete nur darauf, nach dem Zusammenbruch des Regimes aktiv zu werden. Freien Journalismus gibt es nur in Gesellschaften, die das friedliche Zusammenleben zwischen den Bürgern schützen und in denen es einen Sozialvertrag innerhalb einer freien Wirtschaft gibt. Diese Gesellschaften unterliegen nicht den Beschränkungen der religiösen Autorität. In Libyen ist das bisher nicht der Fall. Von einem Land, in dem ein korruptes Feudalregime alle Einkommensquellen der Bürger kontrolliert, ist keine freie Presse zu erwarten.
Es geht nur darum, Interessen durchzusetzen
FM: Nach Berichten der Organisation Human Rights Watch ist die Lage von Geflüchteten katastrophal. Wie reagieren die libysche Presse bzw. Schriftsteller auf diese Situation? Anders formuliert: Weiß das libysche Volk überhaupt darüber Bescheid?
Salah: Hierzu möchte ich zwei Dinge sagen. Erstens: Libyen ist ein Teil Afrikas und liegt nicht auf einem anderen Kontinent, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung keine schwarze Haut hat. Das Land hat unter der Ungerechtigkeit des westlichen Kolonialismus gelitten und ist – wie die übrigen afrikanischen Länder – Geisel der Rückständigkeit und der Ausbreitung von Ignoranz und Korruption geblieben. Das libysche Volk ist sich bewusst, dass die Lage in Libyen für alle katastrophal ist. Fragen Sie den stellvertretenden italienischen Ministerpräsidenten Luigi di Maio nach dem italienisch-französischen Konflikt um den Einfluss in Libyen, der seit 100 Jahren besteht! (Di Maio wirft Frankreich vor, in Afrika Kolonialpolitik zu betreiben; Anm. der Red.) Die Probleme in Afrika südlich der Sahara können nicht von den Problemen nördlich der Sahara getrennt werden. Libyen war ein stabiles Umfeld für Tausende Afrikaner, die dort Stabilität und Arbeitsplätze fanden.
Zweitens sprechen wir über ein Land ohne Polizei oder Justiz. Ein Land, in dem es nur die geheimen Gefängnisse der Milizen gibt. Wie können Sie davon ausgehen, dass ein Journalist unter diesen Umständen über ein solches Thema sprechen kann? Der Menschenhandel ist ein internationaler Mafia-Handel. Der libysche Teil davon erhält seine Gehälter von der Europäischen Union, die die schwache libysche Regierung unterstützt. Wir reden hier von einer globalen Mafia, die zu allem bereit ist. Auch dazu, jeden umzubringen, der ihre Handlungen aufdeckt. Ironischerweise ist Libyen ein Staat, der von dreieinhalb Regierungen regiert wird, und die ganze Welt hat all diese Regierungen anerkannt. Leider geht es allen nur darum, ihre Interessen durchzusetzen.
Drei Voraussetzungen für die Rückkehr
FM: Was wäre für dich ein Grund, nach Libyen zurückzukehren?
Salah: Ich halte mich für einen Weltbürger. Libyen ist für mich sicherlich wichtig, weil es mein Geburtsort ist. Ich habe Erinnerungen an meine Kindheit, aber ich denke nicht daran, für immer dorthin zurückzukehren, aber auch nicht, mich für immer in Deutschland niederzulassen. Ich bin jemand, der zu seinen Ideen gehört. Wenn ich mich jedoch für eine Rückkehr nach Libyen entscheiden sollte, dann erst, wenn drei Dinge erreicht werden: Dass als Staatsoberhaupt eine Frau gewählt wird, dass der Verkauf von Öl gestoppt wird und dass alle Kultstätten für politische Projekte gesperrt sind.
FM: Wie engagierst du dich in Deutschland im Streben einer demokratischen Erneuerung Libyens?
Salah: Ihre Frage ist falsch. Warum haben Sie angenommen, dass die westliche Demokratie für die libysche Gesellschaft geeignet ist? Die Demokratie ist kein Lunchpaket. Wie soll eine Gesellschaft, die noch immer von Stämmen und religiöser Intoleranz beherrscht wird, die Demokratie akzeptieren? Wie soll eine Gesellschaft, in der die Mehrheit die Verfolgung religiöser, ethnischer, sprachlicher und kultureller Minderheiten billigt, die westliche Demokratie anwenden? Ich bin sicher gegen die Diktatur, ob die Diktatur des Einzelnen oder die Diktatur der Oligarchie. Auf der anderen Seite lehne ich die Idee des „Überstülpens“ ab. Libyen leidet an tiefen Problemen, die sich aber sicherlich noch verschärfen, wenn wir versuchen, die westliche Demokratie zu kopieren, ohne die geeignete Grundlage dafür zu schaffen.
Um trotzdem auf Ihre Frage zu antworten: Derzeit bauen ich und eine Gruppe von Freunden, die Partner eines Kulturaufklärungsprojekts in Libyen waren, in Deutschland ein Netzwerk und eine Website auf (www.tanweer.co), die Freiheitseinschränkungen überwacht und Jugendinitiativen dazu ermutigt, ihre Meinung zu äußern und die traurige Situation in Libyen abzulehnen.
Ein Essay von Salah könnt ihr bei der Rheinischen Post lesen: Brief eines Flüchtlings – Nirgendwo willkommen