Ankommen in der Fremde
Meine Tage in Rio de Janeiro verstrichen in einem recht langsamen Rhythmus. Vielleicht weil ich so viel lernen musste. Hinter Menschen, deren Verhalten und den verschiedenen Umgebungen stand meistens ein großes Fragezeichen. Die Mitarbeiter der NGO gaben sich jede erdenkliche Mühe, damit wir das Gefühl bekamen, schon einigermaßen angekommen zu sein.
Eine Lehrerin brachte uns das Brasilianische bei – eine zischende Sprache mit mehr Ausnahmen als Regeln. Wir lernten die Sprache der Straße, zum Unterricht gehörten außerdem Tageszeitungen und Fernsehsendungen. Dadurch konnten wir auch recht aktuell verfolgen, wie der Alltag in unseren alten Heimatländern lief. Es waren meistens schlechte Nachrichten. Krieg, Vertreibung oder ausufernder Korruption gaben den Ton an.
Aber auch hier, in Rio de Janeiro, war das Leben für viele Bewohner alles andere als leicht. Wir sahen, wenn wir zu den Behörden begleitet wurden, dass einige Straßen eine eigene Bevölkerung und Ordnung zu haben schienen. Diese besondere Welt entsprach nicht dem Bild, das die meisten Menschen von Rio haben. Auch mitten in der Stadt, in der Nähe des alten Busbahnhofs, umgeben von modernen und glitzernden Hochhäusern, sahen wir, wie die Schicht der Verlierern und Unsichtbaren lebte.
Unsichtbare Rollen und Regeln
Zwischen den hastenden Männern und Frauen in Anzügen und Kostüme, in den engen Geschäftsstraßen dieser Millionenmetropole, herrschte eine unsichtbare, fast vorgegebene Ordnung, die das Leben beiden Welten regelte. Und trotzdem hatten alle, Weiße oder Schwarze, reich oder arm, einen sehr friedlichen, täuschend harmonischen Umgang untereinander. Viele Menschen sangen oder pfiffen ein Liedchen und das hat uns, Fremde, manchmal stutzig gemacht. Nahmen sie tatsächlich das Leben so leicht oder war das Ganze nur Teil eines absurden Rollenspiels? Egal wie und was es war, wir mussten diese unausgesprochenen Regeln von Rio de Janeiro lernen. Auch in unseren Kulturen gibt es sie, unsichtbar für Besucher, oder eher fremde Besatzer.
Die Mitarbeiter der NGO hatten immer ein paar Überraschungen parat, meistens Ausflüge zu schönen und auch hässlichen Ecken. Diesmal aber handelte es sich um etwas ganz Besonderes. Der eine Mitarbeiter schaute auf die Eintrittskarten, als wären sie eine Fahrkarte zum Himmel. Er, der wie fast alle anderen ein Fußballfanatiker war, lud uns zu einem der meist erwarteten Endspiele der brasilianischen ersten Liga ein. Auch wir mochten Fußball, klar, aber was uns erwartete, übertraf unsere Vorstellungen beim Weitem.
Auf der Welle in den Fußballtempel
Schon der Weg zum Stadium Maracana fühlte sich an, als hätten die meisten Menschen den Verstand abgeschaltet. Horden und Legionen von Fans fuhren eng aneinander gepresst in den Vorortzügen ihren Weg in diese Fußballschalacht. Fast alle trugen Trikots ihrer Mannschaften. Selbst die unzähligen, schreienden Straßenverkäufer waren entsprechend gekleidet. Die Waggons waren stickig, kaum ein Haar hätte zwischen den schwitzenden Menschen Platz gefunden.
Und trotzdem bewegten sich die Verkäufer mit allen erdenklichen Waren elegant an den Menschen vorbei: Flaggen, Sitzkissen, Mineralwasser, Bier und Sandwiches. Es gab alles zu kaufen und ich wurde in meine Kindheit zurückversetzt, als meine Familie noch außerhalb der Hauptstadt wohnte. Die Züge und Verkäufer waren gleich, nur die Stimmung hier war eine ganz andere. Ich hatte noch nie Menschen so laut singen gehört, mit- und gegeneinander.
Nach einer knappen Stunde waren wir da, an der Station Maracana. Der Waggon spuckte gefühlt Tausende von Fans nach Draußen und alle rannten zum Stadion. Und da stand ich plötzlich – vor mir dieses gigantische Bauwerk, der Tempel des Fußballs, wo schon so viele Idole die Welt begeistert hatten. Wie in einem Ameisenhaufen gingen wir die breite Rampe hinauf, die zu den Tribünen führte, wo sich das wahre Volk trifft. Durch kleine Tunnel kamen wir zum Innenraum, ganz oben.
Das schönste Team der Welt
Der heilige Rasen strahlte in einem so intensiven Grün, dass es fast in den Augen schmerzte. Auf diesem Teppich dribbelte schon Pelé seine Gegner schwindelig. Mein Vater war ein großer Fan von ihm! Die erste Mannschaft kam aufs Feld, Schwarz und Rot waren ihre Farbe, das populärste Team Brasiliens, Flamengo. Zusammen mit meinen Begleitern brüllten ich und die Mehrheit der Fans. Riesige Fahnen wurden geschwenkt und schienen für einen Moment die Sonne verstecken zu wollen. Der Lärm fühlt sich an, als ob würde eine Diesellok durch meinen Kopf rasen.
Und dann kamen sie, die Gegner, Fluminense. Wie gebannt starrte ich auf die Trikots, sie glänzten in den Farben meines Landes! Eine Wolke aus Gesichtspuder füllte die Luft, aus Tausenden von Säckchen der Fans, wie befreite Tauben. Zum Entsetzen der anderen stand ich auf und applaudierte. Das sollte jetzt meine Mannschaft sein. Meine Begleiter schauten mich an, als wäre ich ein Geisterkranker. „Das sind ja die Falschen, die Gegner“ raunte mir einer zu.
Ich lächelte zurück und gab zu verstehen, dass ich ab sofort ein Fan von Fluminense bin. Was ich direkt bereute, als sie mir sagten, dass der Verlierer nach dem Spiel das Bier ausgeben muss. Das würde mir teuer zu stehen kommen und ich wünschte mir, den Mund nicht zu voll genommen zu haben. Aber jetzt war es ohnehin zu spät. Die erste Halbzeit endete mit 1:0 für Flamengo und ich sah bereits mein karges Geld flöten gehen. Aber meine wunderschöne Mannschaft, das schönste Team der Welt in diesem Moment, ließ mich nicht im Stich. Zwei traumhafte Tore gegen Ende der zweiten Halbzeit brachten Fluminense in Führung und so endete auch das Spiel.
Der Ball und meine geschundene Seele
Dieses, mein Team, mit den Farben meiner Heimat, hatte gesiegt! Ein Lederball und zweiundzwanzig Männer hatten meine Gedanken, zumindest für diesen einen Tag, weit weg von Krieg, Verfolgung und Armut gebracht. Ich war ein friedlicher Rebell inmitten dieser bunten Masse von genialen Verrückten. Ich war ein bisschen glücklich, in den Farben eines Fußballteams meine Kultur wieder gefunden zu haben. Und ich strahlte noch, als wir wieder im Zug standen, auf dem Weg nach Hause. „Ihr habt sehr viel Glück gehabt“, sagte der eine Begleiter, lächelte aber, als ich erwidere, dass er jetzt mit dem Bier an der Reihe sei.