Viele Jahre ihrer Kindheit hat die Journalistin und Autorin Ibtisam Barakat im Schatten von Krieg und Flucht gelebt. Sie war drei Jahre alt, als die Familie 1967 im Sechs-Tage-Krieg von ihrem Zuhause in der palästinensischen Stadt Ramallah nach Jordanien fliehen musste. Später kehrte die Familie Barakat nach Ramallah zurück und lebte unter israelischer Besatzung. Ibtisam zog 1986 nach New York City, um als Praktikantin bei der Zeitschrift Nation zu arbeiten. Anschließend studierte sie u.a. Journalismus und begann damit, ihre Erinnerungen an Krieg, Flucht und Besatzungszeit für junge Erwachsene aufzuschreiben. In ihren Büchern „Tasting the Sky“ (2007) und „Balkony on the Moon“ (2016) erzählt sie mit großer Unmittelbarkeit aus der Sicht eines palästinensischen Kindes bzw. jungen Mädchens, das Krieg, Verlust und Zerstörung über viele Jahre erfahren hat, von ihren Erlebnissen, Ängsten und Hoffnungen. Beide Erinnerungsbände wie auch spätere Bücher von ihr wurden mit zahlreichen Preisen gewürdigt.
Ibtisam wurde schließlich ein US-Delegierter der dritten Weltkonferenz der Vereinten Nationen zur Beseitigung von Rassendiskriminierung. In zahlreichen Interviews setzt sich Ibtisam mit der Bewältigung von Flucht und Kriegstraumata auseinander. Das Erleben von Natur und das Lesen und Erzählen von Geschichten spielen dabei eine wichtige Rolle.
Im Herbst dieses Jahres, kurz nachdem sie für ihr in arabischer Sprache erhältliches Buch „The Lilac Girl“, mit dem Sheikh Zayed Book Award 2020 ausgezeichnet worden ist, hatte ich Gelegenheit zu einem Interview mit Ibtisam Barakat. Was uns verbindet, ist das Schreiben und das gemeinsame Anliegen, Kindern vielfältige Zugänge zur Literatur wie zur Natur zu ermöglichen. Wir sind im gleichen Jahr geboren, aber in unterschiedlichen Teilen der Welt unter ganz verschiedenen Umständen aufgewachsen.
Was kann Kinder mit Kriegs- und Fluchterfahrungen Mut schenken?
Ein Anliegen bewegte mich bei den Vorbereitungen für dieses Interview besonders. Ich wollte wissen: Welche Quellen der Hoffnung und der Ermutigung möchte Ibtisam vor dem Hintergrund eigener Kriegs- und Fluchterfahrungen mit ihrem Schreiben heute an Kinder weitergeben? Dazu habe ich ihr unter drei Aspekten Fragen gestellt. Und aufschlussreiche Antworten bekommen. Sie werden hier in deutscher Übersetzung wiedergegeben:
SB: Danke für die Zeit und Bereitschaft zu diesem Interview, liebe Ibtisam. Gern würde ich mit dir zunächst über das Erleben von Natur sprechen. Denn mir ist aufgefallen, dass das in deinen Schilderungen oft ein Thema ist. Damit verbunden spielen Wörter und Bilder, Imagination und Geschichten eine wichtige Rolle. Wo siehst du die besondere Chance und Bedeutung der erlebten Natur? Was erleben Kinder in der Natur? Glaubst du, dass das Erleben der Natur für Kinder, die Krieg, Zerstörung und Flucht erlebt haben, besonders wichtig sein könnte? Und wie hast du das als Kind selbst erlebt?
IB: Die Natur ist die eigentliche Heimat des menschlichen Seins. Kinder lieben es, die Natur frei zu erkunden und in ihr zu spielen. Die Vögel singen. Der Wind tanzt mit den Bäumen. Das Wasser plätschert. Das Ausmaß an Freiheit, das ein Kind in der Natur empfindet, lässt sich durch kein Spielzeug in gleicher Weise erreichen. Das Geheimnis der Natur mit ihrer großen lebendigen Ausstrahlung weckt in Kindern eine dauerhafte Freude am Forschen und Entdecken.
Mit dem Regenbogen nach dem Sturm weichen die Ängste zurück
Ich glaube, dass wir Menschen wie Bäume, Tiere und alle anderen Naturphänomene sind. Wir sind „natürlich“ bereit und mit der Möglichkeit ausgestattet, eine Heilung von Traumata zu erfahren, zu transzendieren und weiterzuleben. Ein Beispiel: Zu sehen, wie ein winziger Spatz mit einem großen Vogel am Himmel ringt, kann bewirken, dass sich ein traumatisiertes Kind gestärkt fühlt gegen seine inneren Dämonen und Tyrannen. Oder die Beobachtung, wie Gras durch den Beton der Autobahn bricht und tonnenschwere Barrieren überwindet, zeigt dem Kind, was auf dem Weg der Heilung alles möglich ist.
Wenn nach einem Sturm ein Regenbogen aufleuchtet, weichen die Ängste vor dem Sturm zurück. Die Natur ist ein magisches Klassenzimmer. Wenn Kinder sich für die Natur interessieren, wird diese zu einer lebenslangen Quelle der Heilung. Und einige werden die Welt verändern, weil sie sich für Naturphänomene interessieren und damit die Wissenschaft, die Poesie, die Kunst und Medizin und alle Arten von Ausdrucksformen des menschlichen Geistes voranbringen können.
SB: Als Bibliothekarin und Autorin spielen neben der Natur vor allem Poesie und ganz besonders Kindergeschichten auch in meinem Leben eine wichtige Rolle: Ich denke dabei an Kinderbücher der neueren Literatur, aber auch an traditionelle Märchen und Geschichten aus aller Welt. Meine Vermutung ist, dass viele dieser traditionellen Märchen und Geschichten Werte vermitteln, die weltweit wichtig sind – in allen Religionen und Kulturen. Es geht um Empathie, um Frieden, Gerechtigkeit. Es geht um die Hoffnung auf eine Transformation, die zu einem Happy End führt. Glaubst du, dass solche Geschichten Kindern helfen können, Vertrauen in das Leben zu gewinnen? Und fallen dir Beispiele ein, wie Märchen oder Motive daraus eine heilende Wirkung auf die Seelen von Kindern haben können?
Auf kreative Weise zeigen, wie die Menschheit sein kann
IB: Ich denke, je mehr Geschichten Kinder lesen und die Möglichkeit haben, mit Geschichten aus der ganzen Welt vertraut zu werden und zu interagieren, desto besser. Die Welt besteht aus Geschichten. Und das Lesen und Hören von Geschichten über „gewisse Charaktere“ zum Beispiel kann wie eine „Impfung“ wirken. Sie zeigen uns: Ja, es gibt Menschen, die anderen Menschen Schaden zufügen. Es gibt Menschen, die anderen Menschen helfen. Ja, es gibt Leute, die beides tun. Und es gibt unzählige Schattierungen von Menschlichkeit und Interaktionen. Traurige Momente gehören dazu. Und erstaunlich freudige Momente, manchmal am selben Tag.
Ein Kind beginnt zu erkennen, dass die Welt voller Charaktere und Ereignisse ist, die alle für sich einzigartig sind. Daher muss sich das Urteilsvermögen fortwährend weiter ausdifferenzieren mit der Weiterentwicklung des Denkens und des Fühlens. Geschichten handeln im Wesentlichen vom Überleben der Menschen. Sie sind die Landkarten für das, was menschliches Dasein leitet und begleitet. Geschichten sind voller Warnungen, Einladungen, Bilder, Fragen, Handlungen, Antworten. Aber das Leben selbst ist noch reicher als alle Geschichten, die wir kennen. Indem wir Geschichten lesen, beginnen wir, Geschichten zu schreiben. Entweder mit Worten oder mit der Art wie wir leben. So können wir auf neue und kreative Weise der Welt ein lebendiges Beispiel dafür geben, wie die Menschheit sein kann.
Es braucht viel Mut, einen unvorhersehbaren Weg zu gehen
Ich finde es toll, dass viele Geschichten auf der Welt von Mut und Abenteuer erzählen. Obwohl viele Kinder im wirklichen Leben davon abgehalten werden, Risiken einzugehen. Die Ideen aber können irgendwann dazu beitragen, sich mit Geist und Herz etwas zuzutrauen. Kinder lieben es, Mut zu wagen. Weil sie damit über die Angst triumphieren. Was für eine großartige Weisheit steckt in unseren menschlichen Genen. Und wie viel Mut braucht es, ein Kind zu sein und den langen und unvorhersehbaren Weg zu gehen, eines Tages erwachsen zu werden. . .
SB: In Deutschland gibt es viele Familien mit Kindern, die z.B. in Syrien oder Afghanistan Gewalt und Vertreibung erlebt haben und fliehen mussten. In deutschen Bibliotheken fragen wir uns oft: Wie können wir diesen Kindern helfen, ihre eigenen Bilder für eine hoffnungsvolle Zukunft zu entwickeln? Sind dabei vor allem Geschichten in den jeweiligen Muttersprachen und aus den Herkunftsländern von besonderer Bedeutung? Oder schöpfen die Kinder auch Mut und Vertrauen aus Geschichten und Worten der neuen Sprache und Umgebung?
„Lebensmittel der Heimat“ für die entwurzelte Seele
IB: Wir erleben das in Amerika genauso. Und ich bin selbst als Flüchtling aufgewachsen. Das Flüchtlingskind und das erwachsene Kind sehnen sich lange danach, ihre Muttersprache zu hören, die Bilder von zu Hause zu sehen, die vertrauten Speisen zu essen, die vertraute Musik zu hören. Solche „Lebensmittel der Heimat“ sind echte Medikamente für die vertriebenen und entwurzelten Seelen. Zugleich müssen sie sich auch in der neuen Umgebung zurechtfinden. Also brauchen sie ebenso die neue Sprache und die Elemente des neuen Zuhauses. Das eine allein ist nicht genug. Zugewanderte gehören mindestens zwei Welten an. Und es ist ganz wichtig, beide Welten zu sehen und zu erleben.
Wenn ich nach Palästina gehe, vermisse ich das Englische. Und wenn ich in Amerika bin, vermisse ich Palästina. Ich gehöre zu beiden Welten, nicht nur zu einer. Ich lese und schreibe in zwei Sprachen. Das gibt meiner Welt die dringend benötigte Integrität, die Einheimische nicht mit der gleichen Intensität brauchen.
Weitere Informationen zu Ibtisam Barakat gibt es auf ihrer Homepage.