Mein Kopf fühlt sich schwerer an als normalerweise. Hier stinkt es wie immer. Der Sommer in Deutschland gefällt mir nicht. Er ist nicht wärmer als bei uns, aber es ist eklig warm. Vor allem wird mein Auge unnormal rot wegen der Wärme oder wegen der Sonne oder wegen der Schmetterlinge, die hier über meinem Kopf unterm Dach der Toilettenkabine fliegen. Ich muss hier raus. Ich glaube, es gibt nichts weiter, was aus meinem Körper, der sich wie eine dünne, gerade noch lebendige Leiche anfühlt, rauskommen will. Glücklicherweise gibt es heute Wasser zum Waschen.
Gestern war das eine Katastrophe: Ich war kurz zum Nachbarn gegangen, um mich wegen seiner lauten Musik zu beschweren. Auf dem Rückweg hatte ich ein komisches Gefühl am rechten großen Zeh. Ich dachte, es war der Stress. Es war stressig gewesen mit diesem Mann. Er konnte kein Persisch, Englisch oder Deutsch. Er konnte Kurdisch, Arabisch und weitere Sprachen, die ich nicht kann. Ich freute mich aber, dass er am Ende seine Musik ausgeschaltet hatte. Nachdem ich sieben Treppenstufen runtergelaufen war, habe ich einen Blick auf meinen Fuß geworfen. Ich habe sie gesehen. Eine Ekelhaftigkeit, die niemand sehen mag und nicht an meinen Fuß gehört. Nackt, schwarz, kalt und langsam.
Ich habe sie verflucht, diese Nacktschnecke. Ich habe sie mit meinem Zeh in die Löcher der stählernen Treppe gedrückt. Ihr Schrei war viel zu leise und niemand hat mitbekommen, dass ich sie getötet habe. So ist es auch. Wenn du nicht laut schreien kannst, tust du niemandem leid. Danach habe ich meinen Fuß auch nicht mehr gewaschen. Es gab kein Wasser gestern. Egal, ich sollte jetzt von der Toilette runter.
Wie eine Nackte
„Mama! Gib mir meine Essenkarte! Ich muss in die Küche.“
„Guten Morgen, mein fauler Sonnenschein. Die Frühstückszeit ist vorbei und die Küche ist zu. Du hast wieder verschlafen. Nächstes Mal frag nicht wieder, warum deine Augen so rot sind!“
Meine Mutter hat recht. Ich glaube, ich habe vierzehn Stunden geschlafen und trotzdem fühle ich mich immer noch müde. Ich denke, das ist auch eine deutsche Sache, die ich nicht verstehe. Wie vieles andere in diesem Land.
Ein Schwarzafrikaner vor unserem Fenster: „Hallo! Hallo!“ Klopf klopf.
„Mama, warum öffnest du das verdammte Fenster?“
Meine Mutter ignoriert mich.
„Hallo. Was ist los?“
„Gestern, gestern. Du gesehen?“
„Ja, sehr traurig.“
„Alle reden. Alle sagen Angst! Angst! Die Polizei gestern Nacht nicht gut. Wieder Angst gemacht.“
„Ja, ich weiß.“
„Gestern die Kinder so laut geschrien und geweint. Die Kinder von dieser Frau.“
„Ja, sehr traurig.“
Blind und taub
Meine Mutter macht das Fenster ohne Verabschiedung zu. Normalerweise macht sie sowas nicht. Dafür ist sie zu höflich. Auf Höflichkeit hat sie heute keine Lust, glaube ich. Ihr Gesicht ist blind und taub geworden. Ich kann von ihrem Gesicht nichts mehr ablesen.
„Mama, was war los gestern? Wieso habe ich nichts gesehen?“
„Na ja, du schläfst immer. Gestern wurde diese Albanerin mit ihren Kindern abgeschoben.“
„Was? Welche denn?“
„Die immer von Kopf bis Fuß schwarz trug.“
„Die mit dem Kopftuch?“
„Ja, genau die. Gestern um 9 Uhr kam ein Wagen ins Camp. Der Wagen der Polizei oder sowas. Sie haben alle Sachen rausgeschmissen, die Sachen von dieser armen Frau. Sie saß selber ohne irgendein Gefühl auf den Treppenstufen und sah ihren Kindern beim Weinen zu. Man konnte gestern richtig mitfühlen, wie ihre letzte Hoffnung verschwand. Sie hat sich vor dem Publikum geschämt. Wie eine Nackte. Vor diesem Publikum, das nur zugeschaut und nichts gemacht hat.“
„Was können denn die anderen hier machen Mama? Wir sind selber hier auch nicht so gern gesehen.“
„Ja, ich weiß. Aber du hast sie nicht gesehen. Du hast nicht gesehen, wie die Polizisten die Frau in den düsteren Wagen reingedrückt haben. Ein Wagen aus kaltem Stahl, der vom Regen nass war. Und niemand hat etwas dagegen gemacht. Alle haben nur zugeschaut, wie der Wagen langsam nach draußen fuhr.“
Kalter Stahl überall
Mir fällt gar nichts ein. Ich schaue nur die Wände an. Sie sind auch aus Stahl. Alle Wände, alle Zimmer, alle Treppen und alle Kantinen. Kalter Stahl überall und Nacktschnecken, die nach dem Regen auf dem nassen Boden um das stählerne Loch, das mein Zimmer ist, rumrutschen. In diesem Zimmer muss man schlafen. Das Schlafen macht das Warten einfacher. Wenn man schläft, vergeht die Zeit schneller. Darum schlafe ich. Ich verbringe die Wartezeit in meinen Träumen. Mit roten Augen.
Wenn ich aufwache, frage ich mich: Wann bin ich dran?
Diese Geschichte ist mit Hilla Fitzen im Schreibtandem Projekt aufgeschrieben worden