Armut und Elend begleiten den Alltag und man sieht der Zukunft hoffnungslos entgegen. Man denkt an Flucht aus der Heimat in ein Land, wo alles „besser“ sein muss, als es bisher gewesen ist. Ein Leben, begleitet vom Krieg und der ständigen Angst vor dem eigenen Leben, erschwerte die Lebenssituation für die Menschen in Sri Lanka. Als einzige Lösung, sich aus dem Chaos zu befreien, erschien die Resignation – die „Flucht“ in die Leere.
Da in einem Entwicklungsland Armut und Lebensmittelmangel herrschen und vor allem kaum Geld verdient werden kann, wandern viele Migranten in den Westen, nicht nur aus Sri Lanka, sondern auch aus anderen Teilen der Welt. Über einen konkreten Aufbauplan nach der Ankunft in Deutschland machen sie sich kaum Gedanken. So stoßen viele Migranten, angekommen im jeweiligen Exil, auf eine Hürde voller Aufgaben und Sprachbarrieren, über die sie sich im Voraus nicht im Klaren waren. Das alte Land wurde verlassen in der Hoffnung, im neuen Land die Lösung zu finden. Wie lassen sich die Erwartungen erfüllen? Womit lässt sich Geld verdienen? Wo findet man einen Arbeitsplatz – wenn zu all dem das nötige Handwerkszeug fehlt? Ich spreche vom Erlernen der jeweiligen Landessprache.
Kriegstrauma als Fluchtbegleiter
Bei all dem unterschätzen viele betroffene Flüchtlinge das Kriegstrauma, welches sie aus einem ehemaligen Bürgerkriegsland wie Sri Lanka jahrelang mit sich schleppen. Vielen von ihnen ist nicht bewusst, welche Auswirkungen die Erlebnisse auf ihre Psyche haben können. Darauf werde ich im Kapitel „Die traumatisierten Eltern“ näher eingehen.
Angekommen in einem Industrieland wie Deutschland, sind die eingewanderten Migranten zunächst einmal mit den zahlreichen Formalitäten beschäftigt. In den meisten Fällen verlassen verheiratete Familienväter ihre Familien, um die Reise in die Ferne anzutreten. Frau und Kinder bleiben in der Heimat zurück und hoffen auf eine baldige Verbesserung ihrer Lage. Planlos in Deutschland begreifen manche Migranten, dass die Dinge nicht so einfach funktionieren, wie sie es sich vorgestellt haben.
Die Flucht meines Vaters
Davon möchte ich am Beispiel meines Vaters berichten: Er wanderte im Jahre 1982 im Alter von dreißig Jahren in Deutschland ein. Damals – es war noch zu DDR-Zeiten – erfolgte eine Grenzöffnung mit einem dreitägigen Visum nach Deutschland. Mein Vater verließ Sri Lanka, bevor der Bürgerkrieg offiziell ausbrach. Eingereist in Deutschland musste er feststellen, dass er ohne Sprachkenntnisse keinen Arbeitsplatz finden konnte. Während meine Mutter und meine beiden Geschwister in Sri Lanka waren, hatte mein Vater die Wahl: Er konnte dorthin zurückgehen oder sich in einem neuen Land auf ungewisse Zeit etwas aufbauen. Zusammen mit mehreren Hunderten von Tamilen aus Sri Lanka wurde er von Stadt zu Stadt transportiert, bis er letztlich Ratingen erreichte. Dort verbrachte er zusammen mit sechs Fremden die ersten Jahre im Gemeinschaftszimmer eines Asylheims.
Diese Zeit verbrachte er in Ungewissheit, Hoffnungslosigkeit und großer Trauer, da er auf unbestimmte Zeit getrennt von seiner Familie in einem Land lebte, in dem er weder die Sprache beherrschte noch die Menschen kannte. Er musste sein komplettes Leben von heute auf morgen umstellen. Das Leben im Exil sollte besser und schöner werden als das alte Leben in der Heimat. Doch angekommen im Exil stand er – wie viele Migranten – vor einer großen Baustelle, bei der ihm die Anweisung fehlte, wie und wo er zu bauen beginnen sollte.
Mit sechs weiteren Tamilen, die er zuvor weder gesehen noch gekannt hatte, musste er unter einem Dach die nächsten fünf Jahre seines Lebens teilen. Für mich unvorstellbar, doch für die Reisenden gab es keinen anderen Ausweg. Entweder sie akzeptierten die Lage, wie sie war, oder sie kehrten zurück in ihr altes Leben. Wie viele Migranten nahmen sie die Einschränkung der eigenen Privatsphäre in Kauf, immer auf eine baldige Veränderung hoffend. Als Asylant ohne Arbeitsplatz und Geld hatten sie im Exil nicht viele Optionen.
Neues Land, neue Hoffnung
Den Kampfgeist sowie das Durchhaltevermögen meines Vaters bewundere ich bis heute. Es ist unglaublich, wie Menschen aus einer Lage Hoffnung schöpften, die keinen Boden unter den Füßen bot. Die Vorstellung, dass nach Ankunft im neuen Land alles besser würde, erwies sich für meinen Vater als ein Trugschluss.
Kurze Zeit, nachdem er in Deutschland angekommen war, brach in Sri Lanka offiziell der Bürgerkrieg aus und meine Mutter war mit meinen beiden Geschwistern auf sich gestellt. Eine starke Frau, die mit ihren Kindern während des Bürgerkrieges ums Überleben kämpfte. Während sie von Dorf zu Dorf wanderte, verbrachte mein Vater in Deutschland die Zeit damit, das schwer verdiente Geld nach Sri Lanka zu schicken, um weiterhin unseren Lebensunterhalt zu gewährleisten. Aufgeben und zurückkehren, das wollte er nicht. Er war fest entschlossen, jegliche Herausforderung anzunehmen. Gedanken an das Erlernen der Sprache wurden immer wieder verdrängt, die Migranten hatten zu viele andere Probleme im Kopf, die es zu lösen galt. Sprachinstitute waren für viele von ihnen ein Fremdwort.
Durch die Flucht von der Familie getrennt
Fünf Jahre in Deutschland und ein Leben getrennt von der eigenen Familie hatten für meinen Vater zur Folge, dass ein Teil der Beziehung zu seinen Kindern und der persönliche Bezug zu der eigenen Frau verloren gingen.
Nicht nur meinem Vater erging es so. Andere Familien machen auch heute noch ähnliche Erfahrungen. Die räumliche Trennung ist zugleich eine emotionale Trennung, die sich unbewusst einschleicht. Die Auswirkungen einer solchen Distanz spiegeln sich im späteren Miteinander wider und sind unter anderem Grund für mögliche Ehestreitigkeiten.
Eine Flucht vor irgendetwas ist stets gefolgt von Angst und Unsicherheit. Es gilt, vor dem wegzulaufen, was einem das Leben erschwert. Mit diesem Prinzip verlassen die meisten Migranten ihre Heimat. Die Reise endet in einem neuen Land und beginnt zugleich mit einer erneuten Flucht. Die Flucht vor dem Fremden und einer neuen Angst des Versagens. Aus Ratlosigkeit und Verzweiflung greifen manche zum Alkohol oder zu anderen Rauschmitteln, um sich so ein Stück weit von ihrem Gemütszustand abzulenken.