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„Det is Berlin.“

Die Erwartungen an Geflüchtete, die nach Deutschland kommen sind hoch: Sie sollen sich integrieren, die Sprache lernen, sich ein neues Leben aufbauen und dabei noch die Traumata von Krieg und Flucht aufarbeiten. Im dritten Text unserer Reihe "Frieden zwischen Hier und Dort" schreibt unsere Autorin von ihrem Kulturschock in Berlin und der Last ihrer Vergangenheit.

Bahnfahren in Berlin. Foto: Michael Kauer via Pixabay unter CC0 Lizenz

Zu Berlin habe ich tausend Geschichten in meinem Kopf. Ich gebe zu, dass ich hier viele Fesseln gesprengt und die ersten Buchstaben meiner Persönlichkeit geschrieben habe. Heute erinnere ich mich an die Zeit, als ich neunzehn Jahre alt war. Ich erinnere mich an die große Freude, als ich nach Mitternacht ausging und nur einen billigen Schlafanzug anhatte, von schlechter Qualität und sehr bunt. Mit ungekämmten Haaren ging ich hinaus und lief auf einem der Plätze Berlins herum.

Heute blicke ich zurück und amüsiere mich über mein damaliges Verhalten. Manchmal denke ich, dass es falsch war, was ich tat und dass ich ein wenig verrückt war. Dann sage ich mir wieder: Das ist doch mein gutes Recht, zu tun und zu lassen, was ich will. Es ist mein Recht, das diejenigen, die die Normen festlegen und sich der Menschen habhaft machen, mir geraubt haben.

„Det is Berlin.“

Als ich daran dachte, saß ich in der Bahn direkt hinter der Führerkabine. An einer bestimmten Station stieg der Bahnführer aus, um einem Menschen mit Behinderung beim Einsteigen zu helfen. Seltsamerweise ließ er ihn dann aber doch nicht einsteigen, da er nicht verstanden hatte, wohin dieser Mensch möchte. Der Bahnführer brüllte plötzlich laut durch den Lautsprecher: „Zurückbleiben! Zurückbleiben!“ Die Frau, die neben mir saß, fragte ihren Mann, was mit dem Bahnführer los sei. Ihr Mann versuchte ihr eine Erklärung für das Verhalten des Bahnführers zu geben: „Det is Berlin.“

Die Bahn setzte die Fahrt fort. Ratter, ratter, ratter… Durch die wiederholte Reibung von Rad und Schiene kamen die Gedanken in meinen Kopf zurück. Ratter, ratter, ratter… Du musst deutsch lernen! Ratter, ratter, ratter… Du musst das Geheule der Bomben und den Tod vergessen! Ratter, ratter, ratter… Du musst dich akklimatisieren und integrieren! Ratter, ratter, ratter… Du musst eine Arbeit finden, studieren und die Prüfungen bestehen! Ratter, ratter, ratter… Du musst…

Aber was ist mit dem Kulturschock? Was ist mit den Visionen, den Alpträumen, den Sorgen und schlaflosen Nächten? Was hat das alles zu bedeuten? Ratter, ratter, ratter… Wir, die Kinder des Krieges, werden wie eine Ware billig gehandelt! Von den Kriegstreibern, ihren Mittelsmännern und auch der Presse direkt danach. Nämlich von denen, die unsere Narrative, unsere Bilder und Schicksale missbrauchen. Was haben wir davon? Nichts! Denn wir bekommen nichts von dem, was wir am Notwendigsten brauchen. Was wir brauchen ist Stabilität und Sicherheitsgefühl. Aber was ist mit unserer psychischen Sicherheit?

Hier wartet der Zug nicht auf dich

Wenn ich die Sprache der Finanzen und der Zeit von früher beherrschen würde, hätte ich in meinem Werdegang sicherlich etwas anders gemacht. Aber ich war damals mit anderen Dingen beschäftigt und suchte einen anderen Sinn. Ich kann den Wert dessen, was ich tat, heute nicht bestimmen. Heute reden alle von Werten und Prinzipien, aber wer hält sich noch an Werte und Prinzipien?

Det is Berlin. Ja, tatsächlich, das ist Berlin. Hier wartet der Zug morgens nicht auf dich, wenn du verschlafen hast. Keiner interessiert sich dafür, ob du absichtlich den Morgen verschlafen hast oder etwas anderes im Sinn hattest. Keiner wird oder möchte es erfahren.

Det is Berlin. Die Sirenen in Berlin verstummen nicht, auch wenn die Straßen leer sind oder die Nacht fortgeschritten ist. Diese Stadt braucht unentwegt einen Retter.

Als wären wir Aliens

Ich habe aufgehört, die Jahre zu zählen, damit ich die Last weniger spüre. So konnte ich mir die „Integration“ leichter machen. Ich löschte mein Haus aus meinem Gedächtnis und beseitigte noch dazu alle Erinnerungen, die mir im Weg standen. Dort war die Zeit langsamer und leichter. Ich könnte sogar heute sagen, dass die Zeit, ohne dass ich es bemerkt habe, stehen blieb. Die bittere Wahrheit, die mir ins Gesicht springt, ist der Tod. Dort würde ich umgebracht werden. Auf die eine oder die andere Weise. Hier werde ich dazu motiviert, mich selbst umzubringen, mit dem Unterschied, dass ich hier die Wahl habe, auf welche Weise ich es tue.

Und jetzt, nach dem bitteren Kampf zwischen dem Hier und Dort entschied ich mich, mit meinen 25 Jahren in aller Ruhe hier zu leben und mich von den Konsumenten unserer Erzählungen fernzuhalten. Von denjenigen, die über uns reden, als wären wir Aliens oder Fremdlinge, die auf dem europäischen Kontinent gelandet sind, um als Versuchskaninchen missbraucht werden zu können.

„Frieden zwischen Hier und Dort“ ist ein Schreibworkshop-Projekt des Friedenskreis Syrien. Der Verein tritt für einen friedlichen und kooperativen Austausch zwischen Menschen ein und schafft Austauschplattformen für einen konstruktiven Dialog.

Die Texte sind bereits in veränderter Form in der taz erschienen. Das Projekt wurde in Zusammenarbeit mit Bi´bak, Start with a Friend (SwaF) und Multaka (Treffpunkt Museum) in Berlin durchgeführt und ist durch das Frauen ID Projekt im Rahmen des Kultur macht Stark Förderprogramms / PB und BMBF gefördert.

In sieben Workshop-Tagen setzten sich die Teilnehmerinnen unter Leitung der syrischen Autorin Kefah Ali Deeb mit der Methode des Schreibens auseinander. Teil des Projekts waren Besuche in einigen Berliner Museen, die sich teilweise in den Geschichten der Frauen widerspiegeln. Entstanden sind Texte über das neue Lebensumfeld Berlin, über Heimat und eben über den “Frieden zwischen Hier und Dort”. Wir veröffentlichen sie nach und nach hier.

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