Seit einigen Jahren wird viel über den gesellschaftlichen Zusammenhalt diskutiert. Dies hängt natürlich mit verschiedenen Entwicklungen der jüngeren Zeit zusammen. Themen wie z.B. Migrationsbewegungen, die Klimakatastrophe, die Desintegrations-Prozesse Europas und auch der vieldiskutierte Rechtsruck stellen nur einige wenige Komplexe dar, die das Leben und die Identität des Kontinents auf die Probe stellen.
Selten war das Politische in den gesellschaftlichen Debatten so präsent. Und selten wird so emotional und vehement über die Richtigkeit der eigenen Ideen und über die Zukunft des sogenannten europäischen „Kontinents“ gestritten. Der politische Streit, so scheint es, ist eine alltägliche Erscheinung, die uns überall begegnet und aus der es kaum eine Fluchtmöglichkeit gibt.
Verdrängung, die einfachste und grausamste Methode, scheint insbesondere im Zuge der kommenden Klimakatastrophe, keine Alternative mehr zu sein. Und so sind wir in eine sozialpolitische Situation geraten, aus der es scheinbar nur zwei extreme Auswege gibt. Das sind, idealtypisch gesprochen, die tatsächliche Auseinandersetzung mit politischen Realitäten oder die vollkommene Gleichgültigkeit und damit die Akzeptanz der Unlösbarkeit der Probleme.
Wie man sich auch entscheiden wird – in dem jetzigen Zeitgeschehen scheint eines deutlich zu werden. Nämlich: Die Welt entwickelt sich schneller, als wir es wahr haben wollen. Und wir als Menschen sind nicht so klug und agil, wie es in dieser globalen Situation nötig wäre.
Bedürfnis nach Entschleunigung
So ist es nahezu natürlich, dass sich im Angesicht der Beschleunigung der Entwicklungen unserer Zeit das Bedürfnis nach Entschleunigung, eines Stillstandes oder einer Rückkehr zum Gestrigen hineinschleicht. Eingebettet in bestehende rassistische und kulturchauvinistische Denkmuster haben diese Bedürfnisse das Potential, das gesamte europäische und pluralistische Gefüge zu sprengen. Kommt noch eine progressive Liberale dazu, die aus der Schockstarre der kontinuierlichen und wiederholten Empörung nicht herausfindet und keine alltägliche Praxis des solidarischen, sozialen und ökologischen Handelns herausarbeitet, dann besteht die Gefahr einer Abwärts-Spirale der gesellschaftlichen und menschlichen Verrohung. In dieser erscheint aktives demokratisches Agieren am Ende unmöglich. Irrationale Wut und verletzte Traumata bestimmen schließlich die Normalität.
Potential von zukunftsweisenden Initiativen
Innerhalb dieser Gemengelage von Risiken sehen wir aber auch ein interessantes Potential von zukunftsweisenden neuen Bündnissen und Initiativen, welche hoffentlich weiterhin den öffentlichen Diskurs bestimmen werden. Von den Kämpfer*innen für das Klima, gegen Rassismus, für Feminismus, Selbstbestimmung, Diversität und Pluralismus gehen entscheidende Ideen für unsere Zukunft aus. Ob sie sich als nachhaltig erweisen und langfristig genügend Unterstützer*innen auf allen Ebenen aufweisen werden, wird sich noch zeigen müssen. Und ob sie auch das Potential haben, erstarrte Denkmuster aufzusprengen, ebenfalls.
Es scheint, dass wir inmitten von Aushandlungs-Prozessen sind, welche die Zukunft und das Wesen Europas bestimmen. Dabei sind nicht nur die Themen-Komplexe interessant, sondern auch die Art und Weise, wie wir mit diesen Dingen umgehen. Es geht um nicht weniger, als um unsere Demokratie-Kultur, die auf den Prüfstand gestellt wird.
Stress und Handlungs-Spielräume ungleich verteilt
In dieser uneindeutigen Situation, in der wir uns als Gesellschaft befinden, geht enormen Druck auf alle Beteiligten aus. Die Verteilung des Drucks und des Stresses scheint aber nicht gleich verteilt zu sein. Denn, wie immer, haben Menschen mit den wenigsten Ressourcen die größten Herausforderungen zu meistern. Die Generation unserer Kinder und der „Noch-Nicht-Geborenen“ haben kein wirkliches Mitspracherecht. Menschen am Rande der Armut haben kaum Handlungs-Spielraum zur wirklichen Veränderung.
Aktuell Geflüchtete und Menschen mit unklarem Aufenthaltsstatus müssen neben der Verarbeitung ihrer momentanen Situation mit einem zusätzlichen „Integrations“-druck leben. Eine „Integration“ in ein System, das oft Sicherheit, Eindeutigkeit und Klarheit verspricht, in vielerlei Hinsicht aber die eigenen Versprechungen nicht einhalten kann.
Und so herrscht von vielen Milieus eine unterschiedlich verteilte Überforderung an der eigenen ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen, sozial-emotionalen und kulturellen Wirklichkeit. Die Art und Weise, wie wir mit dieser Überforderung umgehen, wird aber das Wesen Europas langfristig und nachhaltig verändern.