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Das Lager Moria – „Unsere Reaktion ist erbärmlich“

Isabel Schayani ist Journalistin beim WDR und war für ihre Dokumentation "Die vergessenen Kinder von Moria" mehrmals im größten Lager Europas  für Geflüchtete. Wir haben mit ihr über die Perspektive von Kindern und ihren Eltern gesprochen, die von der EU in der Corona-Krise völlig allein gelassen werden.

Foto: pixpoetry on Unsplash

Frage

FM: Du warst für euren Film im Lager in Moria auf Lesbos und hast dort mit Menschen gesprochen, vor allem mit Kindern. Vielleicht kannst du deine Eindrücke beschreiben? Unter welchen Umständen leben diese Menschen?

Antwort

Isabel: Ich war ja, so zu sagen, in einer anderen Zeitrechnung da. Es war die Zeit bevor die Türkei die Grenzen aufgemacht hat und vor Corona. Und schon da war es ein Zustand, wo ich gedacht habe, das ist ein Zustand, der ist an Superlativ schwer zu toppen. Wir waren vier oder fünf Monate früher da gewesen, das war im Oktober. Da habe ich schon gedacht: „Ok, schlimmer geht´s eigentlich nicht und jetzt waren wir nochmal im Februar da und das Lager war noch viel größer geworden und ein großer Teil der Menschen hat weder Toilette, noch fließend Wasser.

Das ist so zu sagen ein ganzer Berg dieser Olivenhain zur linken Seite, wo tausende von kleinen Hütten entstanden sind und man sucht vergeblich nach Plumsklos. Ich habe im Oktober eine Familie kennengelernt und wir haben sie wiedergetroffen. Sie haben sich natürlich erstmal gefreut, dass wir wiedergekommen sind und sie hatten irgendwie diese verdammt naive Hoffnung, dass wir sie mit nach Deutschland nehmen.

Ich habe sie vorher schon gefragt: „Was könnt ihr gebrauchen? Was können wir mitbringen?“ Eine naive und dümmliche Frage, wenn man weiß, dass jemand sowieso nichts hat. Aber irgendwas musste ich ja fragen. Und dann haben die gesagt: „Ja, dann hoffen wir, dass ihr uns hier rausholen könnt.“ Und ich habe schon im Vorfeld gesagt: „ Wir können kommen und über euch berichten. Wir können euch ein paar nötige Sachen mitbringen. Aber wir können euch nicht mitnehmen!“ Ich glaube, man hört das akustisch oder man liest das als Nachricht aber, ich glaube, das ist nicht durchgedrungen.

So waren wir vier Tage da, jeden Tag auch abends, um so verschiedene Zeiten mitzukriegen. Ich habe zwei Kinder begleitet: Mohammad, er ist sieben und Fajatja, sie ist neun. Und als letztes habe ich Mohammad gefragt: „Sag mal, ich habe dir jetzt tagelang Fragen gestellt. Möchtest du mir auch mal eine Frage stellen?“ Und dann hat er gesagt: „Ja, kannst du mich nach Deutschland nehmen?“ Da habe ich gesagt: „Nein!“ und er „Wirklich nicht?“ „Wie kommst du jetzt darauf?“ und dann hat er gesagt: „Ja, kannst du oder kannst du nicht?“ Und ich sagte: „Ich kann dich wirklich nicht mitnehmen.“ Und dann war er so enttäuscht, dieser sieben-jährige Junge, der schon so viel in seinem Alter mitkriegen musste und danach nicht mehr mit mir gesprochen hat.

Ich bin mit der Familie ständig im Kontakt, um zu wissen, wie es ihm geht und wie die Situation ist und um aufmunternde Nachrichten zu schicken. Aber wenn du mich fragst, was ist das für eine Situation, dann muss man einfach sagen: das ist eine Situation, die man sich als Europäer in Europa einfach nicht vorstellen kann. Weil es keine Infrastruktur gibt und es ist eine Situation, in der ein Menschleben weder Rechte hat, noch viel zählt. Und das kriegt man nicht in seinen Kopf rein, das wir hier am gleichen Kontinent sind, die gleichen Rechte gelten sollen und wir über Europa sprechen.

Frage

FM: Griechenland hat ja das Asylrecht praktisch außer Kraft gesetzt. Gibt es für Menschen dort eine Hoffnung auf Asyl oder aus diesem Camp rauszukommen?

Antwort

Isabel: Sie kommen ja alle mit der Hoffnung, dass sie da rauskommen und sie wissen auch alle, dass sie dort erst landen. Die Hoffnung ist, dass sie aufs Festland dürfen, wenn sie tatsächlich eine Anerkennung von Griechenland bekommen. Nur ist das Festland nicht immer besser, als die Inseln. Nun haben wir aber seit Januar ein neues Asylgesetz unter dem Asylminister Metsotakis.  Wir haben mitgekriegt, dass die Antworten ab Januar 2020 binnen einundzwanzig Tagen kommen, wenn die Behörden arbeiten. Und da waren relativ hohe Ablehnungsquoten.

In Moria sind vor allem Afghanen und so triffst du Menschen, einen nach dem anderen, die ihre Ablehnung bekommen haben. Jetzt ist dieser Monat gerade vorbei, wo die Behörden aufgehört haben zu arbeiten. Nun sollen dort zweitausend Menschen sein, die in die Türkeit zurückgeführt werden sollen. Das heißt, was ist die Perspektive? Die Perspektive ist das Festland und die Hoffnung, dass du, wenn du dort ankommst, es irgendwie nach Deutschland schaffst. Das heißt, die meisten haben die Hoffnung nach Deutschland zu kommen. Sie sitzten dort in selbstorganisierten Kursen und haben diesen Traum, der sie über Wasser hält.

Diese Hoffnung treibt sie dann an, dass sie es nach Deutschland schaffen. Wie hoch der Prozentsatz tatsächlich ist, der es nach Deutschland schafft, weiß ich nicht. Aber man muss auch ganz klar sagen, dass dort Familien sind, die wissend in diese Lage reinrennen mit ihren Kindern. Da steht man staunend daneben und fragt sich: „Wie konntet ihr nur herkommen?“ Denn wir hatten teilweise Situationen, wo Leute zu uns kamen und sagten: „Hallo Isabel, ich habe Ihre Filme gesehen“ und wenn man fragt, warum seid ihr trotzdem gekommen sagen sie: „ Ja, aber wir hatten überhaupt gar keine Alternative!“ Das ist sehr schwer zu verstehen. Wenn man weiß, dass man gerade in so eine Hölle reinrennt, dass man keine Alternative sieht in seinem Leben.

Frage

FM: Viele Hilfsorganisationen mussten sich ja jetzt auch zurückziehen. Zum einen wegen der gewalttätigen Übergriffe von Rechtsextremen und zuletzt auch wegen des Coronavirus‘. Was bedeutet das für Menschen in den Lagern, wenn diese Hilfen wegbrechen?

Antwort

Isabel: Als wir im Februar ankamen, stiegen wir gerade aus dem Auto, und die Kinder sagten als erstes: „Hier wird jede zweite Nacht eingebrochen. Wir legen uns im Zelt so, dass sie unser Gesicht nicht treffen, wenn die mit dem Messer das Zelt aufritzen“. Dann kam der Vater, das war seine erste Geschichte. Dann haben wir einen Morgen um sieben Uhr gedreht und haben also sozusagen die Kinder aufgeweckt. Da was es das Erste, dass beim Nachbarn eingebrochen wurde. Das war der Zustand sozusagen in Anführungsstrichen „der Unschuld“ im Februar!

Wenn man sich jetzt vorstellt, dass dort noch mehr Rechtlosigkeit herrscht. Und wenn dort tatsächlich diese Epidemie ausbricht, dann kann ich mir an Kriminalität nur eine Steigerung vorstellen. Weil man eben weiß, dass das alles folgenlos ist und weil du natürlich eine Verrohung hast. Man hat beides: Du hast sowohl sehr beeindruckende Mitmenschlichkeit unter den Leuten, die wirklich… also fast schon ritterlich ist. Auf der anderen Seite hast du eine wahnsinnige Verrohung von Leuten. Weil sie nichts haben, laufen sie dann nachts durch die Gegend, schlitzen mit einem Messer die Zelte auf und versuchen sich da irgendein Handy rauszufischen. Das heißt: Wenn die NGOs weg sind – die NGOs, die ja zum Beispiel die medizinische Versorgung aufrechterhalten.

Im Lager selbst ist der Staat Griechenland als medizinischer Versorger nicht vorhanden. Das haben die komplett in die Hand von NGOs gegeben. Die machen nur so eine Eingangsuntersuchung und gucken sozusagen, ob du noch lebst oder nicht, und dann ist der Grieche raus – sage ich jetzt einfach mal so. Wenn diese NGOs nicht da sind… ich kann mir das nicht vorstellen. Also du überlässt die Menschen komplett sich selbst. Im Moment sind sie ja auch alle unter Quarantäne und dürfen nicht nach Mytilini rein.  Jedenfalls ist das die Info, die ich von der Familie habe, mit der ich in Kontakt bin. Ich kann mir diese Steigerungen immer kaum vorstellen. Aber ich weiß, dass sie kommen. Ich habe jetzt ja schon eine Steigerung mitgekriegt: Nämlich die von Oktober bis Februar.

Frage

FM: Du hast ja am Anfang schon die hygienischen Bedingungen im Lager angesprochen. Welche Folgen hätte eine Ausbreitung des Virus im Camp Moria?

Antwort

Isabel: (seufzt) Du hast da ja keine gesunden Leute, die aus dem Skiurlaub kommen und man hat da auch keine Leute, die gerade von einer Kreuzfahrt kommen oder so. Die sind zum Teil natürlich schon körperlich angeschlagen. Anfangs habe ich versucht mich selbst zu beruhigen und habe mir gesagt: „Ja gut, guck mal, da sind ganz viele junge Leute. Das wird schon nicht so übel werden.“ Doch erstens sind da doch erstaunlich viele ältere Menschen, und die sind ja so eng aufeinander – die stehen ja dreimal am Tag dicht gedrängelt in der Schlange! Was willst du denen da mit 1,5 Meter Abstand kommen? Das geht überhaupt nicht! Ich kann mir diese Zustände nicht vorstellen. Aber sie werden wohl kommen und sie werden grauenhaft sein. Es sei denn man überlegt, ob man die Situation etwas entlastet und Leute da rausholt.

Frage

FM: Genau, es gibt ja Pläne zumindest einige Kinder aus den griechischen Camps nach Deutschland zu holen. Warum passiert da nichts? Es ist ja eigentlich schon beschlossen, wenigstens ein paar zu holen.

Antwort

Isabel: Ich glaube, es ist nicht eine Stelle an der es hakt, ich glaube, es sind viele Stellen. Also zum Einen hast du einen griechischen Staat, der mit dem Rücken an der Wand steht, der völlig überfordert ist und trotzdem aber noch krankhaft bürokratisch. Du hast allein für die Rückholaktion dieser Kinder vier Ministerien, die zuständig sind. Ad eins. Ad zwei hast du UNHCR und IOM, die zwar da sind, aber die verdammt wenig protestieren oder sich auch mal wehren und die eigentlich für die Abwicklung verantwortlich sind.

Und dann hast du auf europäischer Seite eine Kommission, die offensichtlich nicht viel tut. Ein Bundesinnenministerium, das zumindest immer wieder versichert „man wolle die Leute holen“. Aber wenn man sich vor Ort genauer umhört, jetzt nicht sonderlich viel Aktivität hört. Das heißt, du hast mindestens drei oder vier Player, die sich das alle untereinander zuschieben. Die Kinder sind zum Teil – das weiß ich jetzt zum Beispiel aus Luxemburg, die elf Kinder übernehmen – die sind zum Teil schon ausgewählt.

Aber das ist so kompliziert, dass es wirklich schwer ist nachzuvollziehen: An wem scheitert es? In Deutschland weiß ich, gibt es dann auch noch einen Streit zwischen BMI und Auswärtigem Amt, wie viele wir eigentlich nehmen wollen. Und ich kann einfach nur sagen: Wenn man sich ansieht wie die Situation da ist, dann ist die Reaktion, die wir da an den Tag legen, für den Teil für den wir hier verantwortlich sind, wirklich erbärmlich.

FM: Vielen Dank für das Gespräch.

Isabel: Gerne.

https://soundcloud.com/fluechtling-magazin/schayani-interview

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Lilli kommt aus Frankfurt am Main, lebt aber schon seit einiger Zeit in Hamburg und studiert hier Medienwissenschaften. Bei kohero leitet sie den Podcast „Multivitamin“. Ansonsten macht sie viel Musik – am liebsten Jazz und Soul. „Ich bin beim kohero Magazin, weil es mir Spaß macht, mit interessanten Menschen und spannenden Geschichten zu arbeiten. Außerdem hilft es dabei, die Meinungen, Probleme und Erfolge von Geflüchteten in unserer Gesellschaft sichtbarer zu machen.“

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