Unsere extrem unterschiedlichen Gesellschaften befinden sich im stetigen Wettlauf mit der Zeit. Wir alle hechten hehren Zielen hinterher – ob es sich dabei um soziale oder wissenschaftliche handelt.
Der Druck, unter dem Männer stehen, ist dabei häufig nicht ganz so groß wie der von Frauen. Das gilt besonders in Ländern der arabischen Welt. Denn Frauen müssen dort viel häufiger Steine aus dem Weg räumen, um überhaupt an jenem Wettlauf teilnehmen zu können. Oft gibt es religiöse, soziale, kulturelle und sogar politische Vorbehalte, die ihnen direkt oder indirekt im Weg stehen und sie zwingen, sich zuerst gegen sich selbst aufzulehnen, dann gegen die eigene Familie und schließlich gegen die Gesellschaft. Es ist ein komplexer Prozess der Rebellion, den sie erleben. Ein Prozess, der nicht selten mit Gefühlen von Angst, Frust, Verweigerung und Entfremdung verbunden ist. Manchmal schaffen sie es, das zu erreichen, was sie sich wünschen – manchmal aber auch nicht.
In Rollen gezwängt
Dieses Sich-Auflehnen zwängt uns in Rollen, die nicht notwendigerweise unsere sind und die wir nicht selbst gewählt haben. Es zwingt uns in die Rollen von Menschen, die stark sind und in der Lage, sämtlichen Herausforderungen zu begegnen. Oft merken wir gar nicht, wie diese Arbeit uns abhärtet, uns kalt werden lässt gegenüber unseren Seelen – manchmal so sehr, dass wir sie komplett abstumpfen lassen.
Vor ein paar Tagen besuchte ich eine Ärztin, die sich auf Schmerztherapie spezialisiert hat. Ihre vorläufige Diagnose für mich war, dass die starken Schmerzen, unter denen ich leide, Resultat des psychischen Drucks sind, unter dem ich stehe. Ihre Worte überraschten mich, aber was mich wirklich innehalten ließ, war die Aussage meiner Begleiterin. Sie erklärte der Ärztin, dass Araberinnen grundsätzlich starke und widerstandsfähige Frauen seien, die alles aushalten könnten. Es war nicht das erste Mal, dass man mich als stark und widerstandsfähig beschrieb, aber es war das erste Mal, dass ich mir die Frage stellte: Bin ich tatsächlich stark und zäh – oder mache ich mir nur selbst etwas vor?
Ein Wagen voller Schmerz, den wir hinter uns herziehen
Im Jemen drehte sich einmal ein Gespräch zwischen meiner Freundin Belkis und mir darum, wie wir als jemenitische Frauen und Aktivistinnen mit uns selbst zurechtkommen und den Schmerz in unseren Seelen ignorieren. Belkis meinte, wir ließen ihn außen vor, so als trügen wir unnütze Gewichte mit uns herum, die wir aber nicht ablegen dürften. Sie beschrieb es als „Wagen, den wir hinter uns herziehen“. In diesen Wagen legen wir all unsere Erinnerungen, Bilder, Meinungen, Freund*innen und Erfahrungen, die wir gesammelt haben, und fügen schließlich noch unsere Gefühle hinzu. Das Ganze vermengt sich mit den Regeln und Gesetzen, denen wir unterliegen.
So wird der Wagen immer voller, und wir ziehen ihn weiter, während wir Unebenheiten und unwegsamem Terrain trotzen. Wann immer etwas aus dem Wagen fällt, legen wir es schnell zurück, bevor jemand es bemerkt. Die Jahre ziehen dahin und wir tragen diese Last, die von Jahr zu Jahr schwerer wird, bis sie uns so sehr erschöpft und auslaugt, dass wir plötzlich stehen bleiben und nicht mehr weiter können.
Die Kraft des Loslassens
Wäre Belkis hier, würde sie sagen, dass wir gar nicht stark sind. Dass die wahre Kraft darin liegt, sich in unserem Leben von allem zu trennen, was keinen Wert für uns hat. Was uns aufhält, bis wir in der Lage sind, größere Strecken in kürzerer Zeit und mit weniger Last zurückzulegen.
Belkis war immer ein Vorbild für starke Frauen. Bei unserem letzten Gespräch klang ihre Stimme jedoch matt. Sie sagte, sie sei frustriert, der Krieg im Jemen habe sie ausgelaugt. Danach hörte sie auf, auf meine E-Mails zu antworten. Über Freund*innen erfuhr ich, dass sie den Aktivismus aufgegeben hatte und nur noch selten das Haus verließ.
Die Härte gegenüber uns selbst tritt oft als falsche Stärke auf, die wir anderen gegenüber vortäuschen. Wir bemühen uns so sehr, gelassen zu wirken, dass wir unsere innere Stimme ignorieren. Eine Stimme, die darauf besteht, dass wir innehalten und etwas Abstand nehmen von der Last, die unsere Seele erschöpft. Als ich endlich wieder mit Belkis sprach, sagte sie, dass sie den Wagen mit Erinnerungen und Lasten nicht loslassen konnte, aber dass sie ihn eine Weile lang stehen gelassen und sich etwas ausgeruht hatte. Nun wollte sie versuchen, alles abzuwerfen, was sie nicht mehr brauchte.
Kleine Brötchen backen
Ihre Worte erinnerten mich an eine deutsche Redewendung, die die Ärztin mir erklärt hatte, die ich nun regelmäßig zur Therapie besuche: „kleine Brötchen backen“. Oder anders: Der Mensch muss Dinge tun, die machbar sind, und sich im Rahmen seiner Möglichkeiten bewegen.
Eine belastende Lebensweise beeinflusst uns mehr, als wir denken, und der seelische Druck in uns kann zu einer Hülle werden, die uns umschließt. Wir versuchen, ein Loch in der Hülle zu finden, durch das wir frei und ungehindert atmen können. Doch wenn wir unsere Heimat aus verschiedenen Gründen verlassen, um eine neue zu finden, begegnen wir großen Herausforderungen, um uns selbst zu verwirklichen. Wir keuchen hinter unseren Zielen her, von denen manche echt und manche imaginär sind. Und wir fallen in ein Netz aus Sorgen, Ängsten, Anspannung, aus körperlicher und seelischer Unruhe. All das raubt uns Kraft und nimmt uns den Spaß an den Dingen um uns herum.
All das geben wir oft nicht zu und können uns dabei noch nicht mal selbst vergeben. Zu versuchen, uns ohne fremde Hilfe zu konfrontieren, kann uns mehr wehtun, als dass es uns hilft. Sich professionelle Hilfe zu suchen ist ein Recht – keine Schande.
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