Artikel 18 unterscheidet sich von den anderen Artikeln im Grundgesetz durch eine Besonderheit: Er enthält kein Grundrecht, sondern ist ein Kampfmittel der Demokratie gegen Verfassungsfeinde. Der syrische Anwalt Jalal Amin kommentiert Artikel 18 in diesem Text.
Mit Artikel 18 wappnet sich der Staat präventiv gegen Störer der Demokratie. Wer bestimmte Grundrechte missbraucht, dem können selbst Grundrechte abgesprochen werden:
Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.
Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit!
Seit Bestehen des Grundgesetzes fanden bisher sehr wenig Verfahren statt. In keinem der Fälle wurde die Verwirkung der Grundrechte vom obersten deutschen Gericht, dem Bundesverfassungsgericht, beschlossen. Das ist ein gutes Zeichen für das Funktionieren unserer Demokratie. Artikel 18 wurde von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes 1949 vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Weimarer Republik geschaffen. Die Mängel der Weimarer Reichsverfassung – die ihren Feinden dieselben Freiheiten zugestand wie ihren Anhängern – sollten im Grundgesetz beseitigt werden. Nicht noch einmal sollte die Demokratie wehrlos ihren Gegnern ausgeliefert sein. Es sollten verfassungsrechtliche Möglichkeiten geschaffen werden, die Demokratie zu schützen.
Das Bundesverfassungsgericht entscheidet
Ein Verfahren nach Artikel 18 vor dem Bundesverfassungsgericht können ausschließlich der Deutsche Bundestag, die Bundesregierung oder eine Landesregierung einleiten. Es kann sich gegen jeden Besitzer eines Grundrechts wenden, also sowohl gegen natürliche als auch juristische Personen. Die verwirkbaren Grundrechte sind in Artikel 18 abschließend dargelegt. In dieser Aufzählung sind nicht die Menschenrechte entsprechend Artikel 1 genannt. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass die Menschenrechte nicht verwirkt werden können.
Eine Verwirkung von Grundrechten muss grundsätzlich durch das Bundesverfassungsgericht beschlossen werden. Die Entscheidung hat nur Wirkung für die Zukunft. Wer seine Grundrechte missbräuchlich angewendet hat, kann diese künftig nicht mehr in Anspruch nehmen. Meist ist es jedoch so, dass jemand, der Grundrechte missbräuchlich verwendet hat, bereits vor einer Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht strafrechtlich belangt wurde. Aus diesem Grund haben die Grundrechtsverwirkungsverfahren des Bundesverfassungsgerichts in der Praxis so gut wie keine Bedeutung.
Heißt das im Umkehrschluss, dass das Prinzip der Grundrechtsverwirkung, so wie es in Artikel 18 steht, heute veraltet ist und theoretisch abgeschafft werden könnte? Nein, denn schon seine pure Existenz hat eine Signalwirkung und stellt somit einen Sicherungseffekt für unsere Demokratie dar. Auch in Zukunft muss jeder, der sich des verfassungsfeindlichen Grundrechtsmissbrauchs schuldig macht, wissen: Er geht das Risiko ein, dass ihm selbst die Grundrechte abgesprochen werden.
Das Grundrecht auf ungestörte Religionsausübung in der Diskussion
Die AfD brachte am 27.09.2018 einen Gesetzentwurf ein, indem sie die Änderung des Grundgesetzes (19/4484) forderte. Auch die ungestörte Religionsausübung (Artikel 4 Absatz 2) sollte verwirkt werden können. Bisher ist sie in der Aufzählung der verwirkbaren Grundrechte nicht enthalten. Der Gesetzesentwurf wurde mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Fraktion der AfD abgelehnt.
Artikel 18 muss weiterhin als Absicherung in unserem Grundgesetz erhalten bleiben, auch wenn er in der deutschen Geschichte seit 1949 noch nicht zur Anwendung kam. Sollte aber doch jemals jemand die freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährden, dann brauchen wir diesen Grundgesetzartikel zum Schutz unserer Gesellschaft dringend. Artikel 18 ist unsere Absicherung für Zeiten, in denen Feinde der Demokratie unsere Grundordnung stören oder zerstören wollen. Bleibt zu hoffen, dass dies nie passieren wird.
Rechtssysteme im Vergleich
Ich habe mit dem syrischen Anwalt Jalal Amin über diesen Artikel des Grundgesetzes gesprochen. Er wurde 1971 in Aleppo geboren. Seit fünf Jahren lebt er in Berlin und ist dort juristisch tätig. Vor kurzem wurde er in Deutschland eingebürgert. Anfang 2019 hat er ein Rechtswörterbuch in arabisch, kurdisch und deutsch veröffentlicht. „Das syrische Recht basiert auf dem französischen Rechtssystem. Grundrechte im Sinne des deutschen Grundgesetzes gibt es in Syrien nicht verankert in einer Verfassung,“ so Jalal Amin.
Die Verfassung Syriens (دستور سوريا) vom 27. Februar 2012 legt die grundlegenden Funktionen der Staatsregierung fest. Sie bestimmt Syriens Wesenszüge als arabisch, demokratisch und republikanisch. Die bis 2012 gültige syrische Verfassung von 1973 festigte die Macht der Arabisch-Sozialistischen Baath-Partei. §8 beschrieb die Partei als „die führende Partei in der Gesellschaft und dem Staat“. Die wirkliche Macht blieb beim Präsidenten der Republik (seit 2000 Baschar al Assad, wiedergewählt im Jahre 2007).
Jalal Amin erklärt: „Die syrischen Menschen kennen größtenteils ihre Rechte, insbesondere die Menschenrechte, nicht und können sie daher auch nicht einklagen oder sich darauf berufen. Insbesondere die Kurden haben durch ein Gesetz von 1963 ihr gesamtes Eigentum verloren. Es fiel dem syrischen Staat zu. Ebenso haben sie ihre syrische Staatsbürgerschaft verloren. Das heißt, 350.000 Kurden leben in Syrien ohne Pass und werden teilweise verfolgt. Das deutsche Grundrecht der Versammlungsfreiheit ist in Syrien unbekannt. Es können keine Vereine gegründet werden. Es gibt kein Brief-und Postgeheimnis.“
Die weiteren Artikel unserer Grundgesetz-Reihe findet ihr hier: Das Grundgesetz wird 70.