In Artikel 16 geht es um die deutsche Staatsangehörigkeit. Was erst einmal banal erscheint, hat es in sich, wie Lilli und Idris gemeinsam herausfanden.
Artikel 16 wird oft überlesen, auf dem Weg zum Artikel 16a des deutschen Grundgesetzes, welcher mit dem Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.” beginnt. Verständlich, denn in den letzten vier Jahren wurde vielerorts – natürlich auch hier, im Flüchtling-Magazin – intensiv über Asyl, Flucht, Willkommenskultur und Integration diskutiert. Dabei wurde Artikel 16a und die (deutsche) Verantwortung gegenüber Flüchtlingen, insbesondere politisch verfolgten, oft zitiert. Aber Moment, jetzt sind wir ja auch schon vom eigentlichen Thema abgekommen! Heute soll nämlich Artikel 16 des Grundgesetzes im Vordergrund stehen. Dieser besagt:
(1) Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird. [expand title = „Weiterlesen“]
(2) Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind. [/expand]
Auch bei diesem Artikel spielen die deutsche Geschichte, Verantwortung und Politik eine Rolle. Ich habe gemeinsam mit Idris, der vor fünf Jahren aus Eritrea geflohen ist, über dieses Gesetz diskutiert und versucht zusammenzufassen, was Artikel 16 für uns bedeutet.
Schutz vor Staatenlosigkeit
In der ersten Reaktion konnte Idris den Artikel grundsätzlich nachvollziehen: Wenn jemand zum Beispiel ein Verbrechen begeht, was schwerwiegend für die Gesellschaft ist, dann sei ein Verlust der Staatsangehörigkeit hinzunehmen, sagte er. Ich habe daraufhin meine erste Reaktion geschildert, die eher zurückhaltend war. Das hat vor allem mit der NS-Zeit zu tun und meinem Verständnis davon, wem in der Geschichte die Staatsangehörigkeit (übrigens auch auf Grund eines Gesetzes) weggenommen wurde. Zum Beispiel das Reichsbürgergesetz von 1935, dass de facto eine Zweiklassengesellschaft schuf, indem die Menschen in „Reichsbürger” einerseits und „Angehörige rassefremden Volkstums” andererseits aufgeteilt wurden.
Das ist ein krasses Beispiel, aber es macht die Gefahren deutlich. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes mussten also sicherstellen, dass der Schutz der Staatsangehörigkeit ernst genommen wird. Ich denke, dass daher der Satzteil „ (…) wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird (…)” zumindest verhindern soll, dass Menschen in die prekäre Situation der Staatenlosigkeit geraten. Darüber hinaus sind die Gesetze heutzutage auch deutlicher und besagen konkret, was zum Verlust der Staatsangehörigkeit führt. Da wären zum Beispiel der Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit [1], wenn man von ausländischen Eltern adoptiert wird oder wenn man in ausländische Streitkräfte (Militär) eintritt – stets an die Bedingung geknüpft, dass niemand staatenlos wird.
Wenn einem nichts an der Staatsangehörigkeit liegt
Aber was ist, wenn ich zwar eine weitere Staatsangehörigkeit habe, diese aber niemals in Anspruch nehmen würde? Im Gespräch betonte Idris mehrmals, dass es sehr wichtig sei, welche zweite Staatsangehörigkeit jemand hat. Als junger Mann, der aus Eritrea flüchten musste, weiß er aus eigener Erfahrung, dass ein Leben in Eritrea ein Leben in Angst ist. Und, dass er heute nicht viel Wert auf eine eritreische Staatsangehörigkeit legt. Sollte er jemals die deutsche Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung bekommen, sagte er, wäre es wie frei sein.
Wie Idris mir erzählte, gibt es in Eritrea keine Reisepässe, bzw. für Männer erst ab 60 Jahren. Es gäbe keinen legalen Weg, das Land zu verlassen. Auch deswegen, sagte Idris, wirke es manchmal weniger wie ein Land und mehr „wie ein Camp”. So kamen wir im Gespräch auch auf die eritreische Verfassung zu sprechen und darauf, ob es vergleichbare Gesetze oder Artikel in Eritrea gibt.
Verfassungen hier und dort
Nach der Verfassung von 1997 ist Eritrea eine präsidiale Republik mit einem offiziell festgeschriebenen Einparteiensystem. Idris erzählte mir, dass er früher in der Schule jedes Jahr die Verfassung „beigebracht“ bekam und, dass Polizisten in die Klassen kamen, um das Wissen der Schüler zu überprüfen. Er sagte: „Jedes Jahr lernten wir über die Verfassung, aber 80% davon ist Theorie.” Was ich in diesem Moment nicht ahnte – er meinte das wörtlich, denn offiziell ist die Verfassung Eritreas nie in Kraft getreten.
Als wir auf das Thema Staatsbürgerschaft kamen, beschrieb Idris nüchtern, dass es nicht möglich sei, als Ausländer*in die eritreische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Es gibt wohl ein relativ komplexes System, in dem drei Zeugen, die dich oder deine Familie kennen, bestätigen müssen, dass du an Eritrea „gebunden“ bist. So sollen Menschen, deren Eltern nicht die eritreische Staatsbürgerschaft besitzen, nicht zu Eritreer*innen werden. Diese gesetzlichen Hürden seien aber nicht wirklich der Kern des Problems, sagte Idris, sondern die weit verbreitete Angst vor allem, was mit dem Staat zu tun hat. Laut Idris sei schon die Erwägung, zu einer Behörde o.ä. zu gehen, angsteinflößend. Somit war der Versuch, für uns einen Vergleich zwischen Deutschland und Eritrea zu ziehen, abgeschlossen!
Die Diskussion um Staatsangehörigkeit
Aber was bedeutet es, in einer so offensichtlich vielfältigen Gesellschaft wie Deutschland, über Staatsangehörigkeit nachzudenken? Spielt es denn noch eine Rolle, welche Farbe mein Pass hat? So könnte ich denken, als mehrfach privilegierte deutsche Staatsangehörige, die schon öfter im Leben freiwillig an neue Orte migriert ist, jedoch niemals auf mein Recht, dort auch sein zu dürfen, geprüft wurde. Anders ist es für Millionen von jungen Menschen, deren Eltern aus anderen Ländern nach Deutschland kamen und die heute die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen.
Trotzdem hören viele Tag für Tag, woher sie denn „wirklich” kämen. Die sozialen Medien sind voll von eindrucksvollen Erzählungen (siehe die vielen Beiträge auf Twitter unter #vonhier). Dennoch sagen andere, das wäre alles nur „Opfergehabe“. Die etwaigen Fragen nach der Herkunft der Eltern, oder auch Großeltern, würden doch nur aus Neugier gestellt. Dabei beschreiben Publizist*innen wie Ferda Ataman genau, was an der Diskussion rund um Herkunft, Zweistaatlichkeit oder Deutschsein wirklich schadet: „die verbale Ausbürgerung” (den Artikel findet ihr hier: Der ethnische Ordnungsfimmel). [2]
Eine Frage der Zugehörigkeit
Zudem muss ich erwähnen, dass das tatsächliche Entziehen der Staatsangehörigkeit in der politischen Diskussion immer öfter auch als Art eine „Strafe” oder Konsequenz für vermeintliches Fehlverhalten gehandelt wird. Vor allem unter rechts-konservativen (erst recht im rechtsextremen) Spektrum wird oft mit „Pass wegnehmen!” um sich geschmissen, als gäbe es Artikel 16 nicht. Viele werden sich daran erinnern, als ein prominenter AfD-Politiker sagte, die Staatsministerin für Migration, Integration und Flüchtlinge wolle er „in Anatolien entsorgen”.
Anstatt solche Verletzungen der Grundrechte entsprechend zu behandeln, wird das Thema Staatsangehörigkeit heute eher als Frage der Zugehörigkeit diskutiert. Es wird mehr gefragt: Wer darf die Staatsangehörigkeit beanspruchen? Und eher weniger: Wem darf sie wieder weggenommen werden? Vielleicht liegt das daran, dass unser Verständnis von Herkunft und Identität nicht ein für alle Mal per Gesetz geregelt werden kann. Und das sollte meiner Meinung nach auch nicht sein! Denn eine Diskussion um das Thema ist wichtig und richtig – solange wir dabei unser Grundgesetz nicht außer Acht lassen.
Die weiteren Artikel unserer Grundgesetz-Reihe findet ihr hier: Das Grundgesetz wird 70.
Weitere Quellen:
[1] Mit der Außnahme der Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates oder der Schweiz (Quelle: Auswärtiges Amt)
[2] Woher kommst Du? #vonhier, Deutsche Welle. https://www.dw.com/de/woher-kommst-du-vonhier/a-47988141