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Artikel 11 – Wer darf wo leben?

Wisst ihr eigentlich, wie viele Artikel das Grundgesetz hat? Könnt ihr alle Grundrechte aufzählen? Nein? So ging es uns auch. Deshalb haben wir den 70. Geburtstag des Grundgesetzes zum Anlass genommen, um eine Artikelreihe zu starten. Seit dem 23. Mai gibt es jeden Tag einen Artikel zu einem Grundrecht. Natürlich interessiert uns besonders, wie Geflüchtete über das Grundgesetz denken.

In Artikel 11 geht es darum, dass man sich frei bewegen und leben darf, wo man möchte. Anna hat mit Sowmar aus Syrien darüber gesprochen, ob dieses Recht für Geflüchtete  genauso gilt. Er findet: In Deutschland schon.

In Deutschland sind wir daran gewöhnt, zu reisen und den Wohnort zu wechseln. Die meisten Menschen ziehen mehrmals im Leben um – von Stadt zu Stadt, von der Stadt aufs Land oder umgekehrt. Dass diess möglich ist, wird in Artikel 11 des Grundgesetzes geregelt, der die Freizügigkeit der Deutschen im Bundesgebiet sichert:

(1) Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet. [expand title = „Weiterlesen“]

(2) Dieses Recht darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes und nur für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden oder in denen es zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen, zum Schutze der Jugend vor Verwahrlosung oder um strafbaren Handlungen vorzubeugen, erforderlich ist. [/expand]

Das bedeutet, man darf sich aufhalten und wohnen, wo man möchte. So weit, so gut. Dieses Recht darf aber unter bestimmten Umständen eingeschränkt werden. Hier gibt es mehrere Regelungen. Eine erste Einschränkung betrifft den Fall, dass Menschen nicht selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können und „der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden“. Man kann also Menschen, die Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe erhalten, beispielsweise untersagen, in eine andere Stadt zu ziehen, wenn Wohnungen dort wesentlich teurer sind. Auch bei Jugendlichen, bei denen eine Gefahr gesehen wird, dass sie verwahrlosen, kann bestimmt werden, dass sie in ein Heim ziehen müssen.

Eine weitere Einschränkung tritt bei Gefahrensituationen in Kraft: Wenn Seuchen ausbrechen oder Naturkatastrophen passieren, gilt die Freizügigkeit nur eingeschränkt. Darunter fallen auch Situationen, in der „die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes“ in Gefahr ist. 1968 wurde die Notstandsverfassung verabschiedet, die in Krisensituationen die Handlungsfähigkeit des Staates gewährleisten soll. Die Einführung wurde von Protesten der Außerparlamentarischen Opposition und der Studentenbewegung begleitet. Die Gegner*innen befürchteten, dass der Staat unverhältnismäßig großen Rechtsspielraum erhalten könnte, so wie es in der Vergangenheit, vor allem in der NS-Zeit, durch die Ermächtigungsgesetze der Fall war.

Sowmar Kreker. Foto: Hussam Al Zaher

Bewegungsfreiheit – auch für Geflüchtete

Für Asylbewerber*innen gilt in Deutschland als einzigem Land in der EU die sogenannte Residenzpflicht. Sie dürfen für die ersten drei Monate nach ihrer Ankunft entweder den Bezirk, den Landkreis oder das Bundesland nicht verlassen, in dem sie gemeldet sind. Ist das Asylverfahren abgeschlossen, gilt aber, dass man sich den Wohnort frei aussuchen darf. Die Freizügigkeit findet sich auch in der Genfer Flüchtlingskonvention, die in Artikel 26 festlegt ist, dass anerkannten Flüchtlingen das Recht gewährt werden muss, ihren Aufenthaltsort zu wählen und sich frei zu bewegen.

Sowmar Kreker, der 2018 aus Syrien nach Deutschland kam, hatte seit seiner Ankunft nicht das Gefühl, in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu sein. Er sieht das Problem eher darin, dass es Geflüchteten am Anfang oft schwer fällt, zu entscheiden, wohin sie gehen sollen und was ein guter Ort zum Leben für sie wäre. Daher landen sie oft in Städten, wo sie keine Perspektive haben oder dort, wo ihre Community lebt. Sowmar weiß, dass es dann oft schwierig ist, mit der Bevölkerung außerhalb des eigenen Kreises in Kontakt zu kommen. Im schlimmsten Fall kann es zu einer „Gettoisierung“ kommen. Er findet: „Geflüchtete sollten erst einmal hier ankommen, die Sprache lernen und das Land verstehen. Dann können sie ihre Freiheit nutzen und vernünftig entscheiden, wo sie leben möchten.“ Sowmar selbst lebt aktuell in Solingen, wo er eher zufällig gelandet ist.

Freizügigkeit ist nicht gleich Freizügigkeit

Sowmar war schon mehrfach in Griechenland, um gemeinsam mit einer arabisch-amerikanischen Anwältin Geflüchtete in den Camps auf den griechischen Inseln zu unterstützen. Dort ist die Situation eine andere: Die Geflüchteten müssen in Camps bleiben und dürfen nicht weiterreisen, bis sie einen schwarzen Stempel in den Pass bekommen. Nach Sowmars Erfahrung kann das zwischen vier Monaten und drei Jahren dauern. Nur Notfälle können weiterreisen, z.B. schwangere Frauen. Wovon es abhängt, dass man den Stempel bekommt, ist nicht transparent. Sowmar vermutet, dass vor allem das Herkunftsland entscheidend ist. Die meisten Geflüchteten zieht es in die Städte. Viele wollen nach Athen. Doch Sowmar empfiehlt nicht unbedingt, die Weiterreise anzutreten. In den Städten ist die Versorgung nicht besser. Die Wahrscheinlichkeit, obdachlos zu bleiben, ist sehr hoch.

Das europäische Recht hält die Geflüchteten auf den Inseln, die wie ein Gefängnis für sie werden. Freizügigkeit genießt also erst, wer von den Behörden einen gewissen Status zugewiesen bekommen hat. Viele Geflüchtete tun alles, um den notwendigen Stempel in ihren Pass zu bekommen. (Hier berichtet die Schweizer Wochenzeitung WOZ eindrücklich über die Situation in den Camps.)

Die weiteren Artikel unserer Grundgesetz-Reihe findet ihr hier: Das Grundgesetz wird 70.

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Anna hat Medienwissenschaften studiert und promoviert in der Erwachsenenbildung. Bei kohero koordiniert sie die Online-Redaktion. In ihrem zweiten Job arbeitet sie für eine Hamburger Stiftung als Projektkoordinatorin eines Weiterbildungsprogramms. „kohero ermöglicht mir, online und offline gemeinsam mit tollen Menschen für gesellschaftlichen Zusammenhalts zu kämpfen. Jede*r hat eine Geschichte zu erzählen – dieses Motto des Magazins ist für mich die Grundlage dafür!“

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