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Sogenannte Gäste und eine schwarze Maria. Reisegedanken zur Toleranz

Um Erfahrungen mit Toleranz zu machen, muss man nicht in weit entfernte Länder reisen. Moritz Plambeck begibt sich hier auf eine Art Gedankenreise und beschreibt Eindrücke, die er dabei in Bayern gesammelt hat. Und er fragt zu Beginn: Wie haben Menschen zu anderen Zeiten Toleranz definiert?

Das Thema „Toleranz“ war im November das Monats-Thema beim Flüchtling Magazin. Vor uns haben sich schon ganz andere mit dieser Thematik auseinandergesetzt. Einer davon war John Locke. Im Jahr 1683 wurde der philosophische Aufklärer zum Flüchtling. Er, der Vater des Liberalismus, floh, da er im Verdacht stand, beteiligt gewesen zu sein am Rye-House-Plot, einer Verschwörung zum Mord am König von England sowie dessen Bruder wegen ihrer prokatholischen Politik.

Umdenken kann nicht erzwungen werden

In die Niederlande geflohen, schrieb er einige Jahre später einen Brief an seinen Freund, den Theologieprofessor Philipp van Limborch mit dem Titel „A Letter Concerning Toleration“. In diesem stellt er seine Meinung klar dar: Es muss größere Toleranz gegenüber religiöser Vielfalt geben. Damals ging es um Atheisten, Protestanten und Katholiken aber auch Quäker, Unitaristen, Armenier, Baptisten etc.

Diejenigen, die andere mit Gewalt dazu zwingen, ihren Glauben und ihre Kultur zu ändern, können nicht aus christlichem Antrieb handeln. Ein Umdenken unter Androhung von Gewalt kann nicht funktionieren, so die These von Locke.

Er selbst aber war auch nicht vollständig tolerant oder hegte zumindest begründete Zweifel: Katholiken war nicht zu trauen, da sie nur die Marionetten des Papstes waren. Und Atheisten konnten auf keine Bibel schwören und mussten daher keine göttliche Vergeltung befürchten. Aber hat diese Unterscheidung bei begründeten Zweifeln schon mit Intoleranz zu tun?

Von Locke zu uns: Toleranz geht von jedem aus – und hat seine Grenzen. Kaum jemand, der etwas selbstreflektiert ist, würde sich selbst intolerant nennen. Der eine ist dem anderen gegenüber tolerant. Ob er der Mehrheit angehört oder der Minderheit, spielt dabei kaum eine Rolle. Hetero- und Homosexuelle müssen gegenseitig Toleranz zeigen.

Wo stößt die Toleranz am ehesten an ihre Grenzen?

Wird es für uns schwierig mit der Toleranz, wenn jemand Unverständnis zeigt? Wieso essen Hindus kein Rind-, Moslems kein Schweinefleisch und Veganer gar keine tierischen Produkte? Bin ich so tolerant und nehme darauf Rücksicht?

Das sollten wir. Aber die Toleranz hört auf, wenn jemand die anderen überreden statt überzeugen will. Ohne Argumente und womöglich unter Androhung von negativen Folgen oder gar Gewalt jemanden in seiner Meinung zu beeinflussen, ist nicht zu tolerieren.

Toleranz wirkt zuerst nach innen. Es entsteht ein Innen-Außen-Denken: Ich identifiziere mich mit dem einen und erdulde das andere. Die Themen und Schwellen sind dabei überall anders. Auch wie direkt oder unterschwellig Meinungen geäußert werden. Am ehesten merkt man diese Unterschiede auf Reisen in andere Länder. Es „herrschen andere Sitten“. Man ist anderer Meinung.

Kürzlich war ich im fernen, fremden Bayern. Die Wahlen waren noch nicht lange her. Während meines Aufenthaltes einigten sich CSU und Freie Wähler auf eine Koalition. Bereits bei meiner Anreise musste ich tolerant sein. Im Zug beschwerte sich ein Fahrgast bei seinem Sitznachbarn über die Zugverspätung. Die Ansage des Zugpersonals meldete: „Personen im Gleis“. Ich dachte mir nur: Da rennt wieder wer auf den Gleisen rum und alle haben Verspätung.
Die Beschwerde des Mitfahrers lautete: „Hob g‘hört, desch wa‘ a Araber. G’wiss wieda ana unsrer sogennanten Gäschte“ (Habe gehört, dass war ein Araber. Gewiss wieder einer unserer sogenannten Gäste).

Sogenannte Gäste

Nicht an der Unterhaltung beteiligt, in einer anderen Reihe sitzend, war ich etwas schockiert. In Hamburg hatte ich solch eine oder ähnliche Aussage noch nicht gehört. So direkte Äußerung von Vorurteilen waren mir bisher nur in Comedy Shows begegnet, entsprechend amüsiert war ich zuerst. Dies aber war ernst gemeint.

Sage ich etwas oder erdulde ich seine Vorurteile? Bin ich tolerant? Hat das überhaupt etwas mit Toleranz zu tun? Ich bin auch nur ein sogenannter Gast hier in Bayern. Eine Diskussion erspare ich mir und denke an Mark Twains Zitat: „Streite niemals mit dummen Leuten, sie werden dich auf ihr Niveau ziehen und dich dort mit ihrer Erfahrung schlagen“.

Während meines Urlaubs komme ich durch Altötting. Hier wird meine Toleranz auf eine ganz andere Probe gestellt. In dieser Kleinstadt mit 12.000 Einwohnern gibt es 12 katholische Kirchen (und eine evangelische am Stadtrand). Mehrere Päpste waren hier. Benedikt XVI ist hier geboren und war 2006 zu Besuch. Die Pilgerstadt ist Zentrum für viele Pilgerwege, auch der Jakobsweg verläuft hier entlang. Kommen in Hamburg auf ca. 6.000 Einwohner je eine Kirche, Moschee oder Tempel sind es hier nur 1.000 Einwohner auf ausschließlich Kirchen. In Hamburg gibt es Muslime, Christen, Juden, Hindus, Buddhisten und noch viele weitere. In Altötting gibt es Geschäfte für Devotionalien. Überall kann man Kreuze, Kruzifixe, Marienfiguren, Jesusbildnisse und vieles mehr kaufen. Vor den Kirchen stehen Körbe, in die man die in den Geschäften gekaufte Kerzen geben kann, welche dann durch geistliche in den Kirchen entzündet werden.

Und davon reichlich. Es ist ein Samstagnachmittag im November. Weihnachtszeit ist noch nicht. Allerheiligen war gerade erst. Am Hauptplatz sind mehr Kirchtürme und Devotionalien-Geschäfte zu sehen als Menschen. Ein Geschäft für Devotionalien reiht sich an das nächste. Nur unterbrochen durch einige wenige Cafés und Restaurants. Ich bin versucht, eine der Nonnen anzusprechen und nach dem Weg zur Moschee zu fragen. Doch ich bin tolerant. Ich toleriere diese exzessive Zurschaustellung des katholischen Glaubens. Noch nie hatte ich solch eine Fülle an einem Ort erlebt. So muss es in Mekka sein, dachte ich – nur voller.

Bilder aus Alt Ötting. Foto von Moritz Plambeck
Bilder aus Alt Ötting. Foto von Moritz Plambeck

Maria mit schwarzer Hautfarbe

Wir besuchen die wohl kleinste aber gleichzeitig auch bedeutendste Kirche in Altötting, die Gnadenkappelle: Außen übersät mit Bildern und Glaubenssprüchen hoch bis unter die Decke, im Innern gut besucht. Und da ist der stolz von Altötting: das 64 cm große Bildnis der heiligen Maria. Sie ist schwarzer Hautfarbe, aus Lindenholz gefertigt und über 500 Jahre alt. Sie ist der Grund, warum Altötting Wallfahrtsort ist. Ein Knabe soll erst ertrunken und zu Füßen der Maria gelegt und dann wieder erwacht sein.

Ausgerechnet hier im tiefsten Bayern, wo die Menschen in Tracht ihren Tätigkeiten nachgehen, wo man das Deutsch kaum versteht und es katholischer wohl nur im Vatikan zugehen kann, ist man schon seit Jahrhunderten tolerant gegenüber einer Maria, die schwarzer Hautfarbe ist.

Bayern ist also toleranter als gedacht. Man fühlt sich als Tourist nicht immer willkommen, vor allem weil jeder Bayer davon ausgeht, man müsse ihn klar und deutlich verstehen können. Aus Protest grüße ich jeden mit „Moin“ der mir begegnet.

In den Alpen erfordert es von geübten Führern von Wandergruppen aber auch noch eine ganz andere Form der Toleranz: die gegenüber der Ablenkung und Selbstdarstellung. Beim Wandern durch die Alpen begegnet uns ein kleines Grüppchen mit Führer. Die Aussicht ist herrlich. Die Sonne scheint. Schleierwolken zieren den Himmel und der Ausblick in nebelverhangene Täler ist unglaublich. Ebenso unglaublich die Vielzahl der Menschen, die pro Schritt mindestens ein Selfie schießen. Nicht falsch verstehen, ich mache auch viele Bilder, versuche aber dabei selten mich selbst in Szene zu setzen. Der kommende Wegabschnitt ist etwas tückisch, weil steil, glatt und rutschig. Der Führer weist seine Gruppe an: „Use your hands, not your phone“. Endlich spricht einer aus, was ich oft denke. Unsere Wege trennen sich.

Toleranz ist überall. Jeder hat seine Meinung, sein Weltbild und seine Identität. Solange man den anderen die ihre lässt, ist man tolerant. Man erduldet andere Ansichten und erkennt andere Weltanschauungen an. Auch wenn sie einem nicht gefallen mögen.

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