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Tabu oder die Angst vor dem Unbekannten?

Unseren Autoren Leonardo De Araújo beschäftigt die Frage: Wann sind Tabus das Ergebnis aus der Angst vor dem Unbekannten und wann können sie womöglich auch positive Unterschiede zwischen Kulturen hervorheben, die das Miteinander bereichern? Das größte Tabu-Thema für viele Menschen ist leider eine HIV-Erkrankung – insbesondere für Geflüchtete. Angst vor Abschiebung und gesellschaftliche Konventionen aus den Herkunftsländern sind hierbei wesentliche Faktoren. Doch letztlich kann es auch ungeschriebene Gesetze in Kulturen geben, die Tabus in einem helleren Licht zeigen ...

Tabu. Bild von Eugenia Loginova

Kann ein Tabu auch die Angst vor etwas Unbekanntem sein? Arash ist ein junger Mann aus Afghanistan. Wie viele anderen ist er allein nach Europa gekommen. Seine Familie hat sehr viel Geld für seine Überfahrt bezahlt. Jetzt ist er in Deutschland und versucht, sich so schnell wie möglich anzupassen, die Sprache zu lernen und sich eine neue Perspektive im Leben aufzubauen. Davon wird auch seine Familie profitieren, wenn er einen Job bekommt und Geld nach Hause schicken kann.

Aber zuerst muss er ein Problem lösen. Es ist etwas, worüber er in seiner Heimat niemals sprechen würde, auch nicht mit den Eltern. Durch eine Routineuntersuchung in der Erstaufnahme bekam er die erschreckende Diagnose: HIV. Diese drei Buchstaben könnten das Aus für seine Pläne bedeuten. Er wird mit Sicherheit abgeschoben. Die Deutschen wollen sicher keine kranken Leute bei sich haben, egal wo und warum sie herkommen.

Ein Tabu, das nicht gebrochen werden darf

Während der langen Flucht hatte Arash ab und zu Sex mit Frauen gehabt. Sicher wusste er, dass man manchmal davon krank werden kann. Die Jungs in seiner Heimatstadt sprachen verborgen darüber. Aber die Lust und die Suche nach Trost waren stärker als die Angst. Und jetzt wird er beim nächsten Gespräch zu seinem Asylantrag sicher darüber reden müssen. Er betet zu Gott, dass keine Beamtin mit ihm redet, das wäre das Schlimmste, was er sich vorstellen kann. Mit einer Frau über Sex zu reden, ein Tabu, das auf keinen Fall gebrochen werden darf. Arash fühlt sich in einer ausweglosen Situation.¹

‚AFRIKAHERZ‘ – ein Projekt zur gesundheitlichen Aufklärung

Rosaline M’Bayo kennt nur zu gut die Berührungsängste vieler Flüchtlinge. Die Sozialpädagogin aus Sierra Leone lebt seit 32 Jahren in Deutschland und arbeitet für das Projekt ‚AFRIKAHERZ‘.Die Initiative wurde 1998 gegründet und betreibt unter anderem die gesundheitliche Aufklärung bei Migranten. „Viele haben Angst, wegen ihrer Infektion abgeschoben zu werden oder, dass ihr Asylantrag abgelehnt werden kann. Sie verschweigen sie lieber.“

Die kulturellen Barrieren sind hoch. Manchmal braucht sie zehn bis zwanzig Gespräche, bis sie das Vertrauen zu ihren Schützlinge aufbauen kann, um die gesundheitlichen Aspekte ansprechen zu können. Das Tabu vieler Flüchtlinge, über Sexualität, AIDS oder HIV zu sprechen führt recht häufig zu Fragen wie: „Darf ich trotz HIV schwanger werden?“ oder „Wem darf ich von meiner Infektion erzählen?“. Rosaline wünscht sich eine stärkere politische Unterstützung, um die Aufklärung und HIV-Prävention auszubauen. „Oft werden Betroffene stigmatisiert und daher ist die Entwicklung kultursensibler Versorgungsangebote wichtig.“²

Aktive Unterstützung für Menschen aus arabischen Ländern

Der Sudanese Badreldeen Babiker lebt seit 2014 in Deutschland und arbeitete zunächst ehrenamtlich in der Osnabrücker Aidshilfe. Seit 2017 finanziert die deutsche Aidsstiftung seine Stelle. Seine Geschichte fängt aber viel früher an: 2015 im Sudan. Ein Freund, der Medizin studiert hatte, gründete dort eine kleine Aidshilfe. Mit weiteren fünf Freunden halfen sie HIV-Positiven und versuchten, über die Krankheit aufzuklären. Diese Hilfe war heimlich und illegal, in einem Land, wo die Verteilung von Kondomen per Gesetz verboten ist.

Offen über Sex zu reden, käme einer Todessünde gleich. Ein Tabu. Diese Hilfe war aber nicht der Grund, warum der Sudanese sein Land verlassen musste. Er war seit 1999 Mitglied einer politischen Gruppierung, die gegen die Regierung vorging. Drei Mal hätte er beinah mit seinem Leben dafür bezahlt und er saß auch mehrmals im Gefängnis. Babreldeen ist ein Glücksfall für die Aidshilfe, sagt eine Mitarbeiterin. Denn er weiß, wie Menschen aus arabischen Ländern denken.

In seinen Informationsveranstaltungen vermittelt er den Teilnehmern unter anderem, wie man sich vor sexuell übertragbaren Krankheiten schützen kann. Bestimmte Themen gleichen einer hohen Hürde, die man zuerst überwinden muss. „Die Gemütsregungen sind fast immer gleich, zuerst wiegt der Scham in einem sprachlosen Raum, irgendwann kommt ein befreiendes Lachen und dann folgt die aktive Mitarbeit.“

Tabus können auch positiv sein

„Ich war am Anfang selbst schüchtern“, gesteht er. Tabus sind in jeder Gesellschaft vorhanden. Arash würde sein Dilemma beschreiben als etwas, über das man in der Öffentlichkeit nicht spricht oder etwas, was man nicht macht oder zeigt. Die Grenze zwischen Tabu, Unhöflichkeit und Aberglaube ist manchmal fließend und werden auch vom Generationsunterschied beeinflusst. Das liebe Geld ist in Deutschland ein Tabu, keiner würde nach dem Gehalt eines Anderen fragen.

In Osteuropa, auf dem Balkan, verschenkt man keine gerade Anzahl an Blumen. Nicht in die Augen zu schauen während eines Gesprächs, gilt in Europa als unhöflich. Dagegen ist es in El Salvador ein Tabu, beim Reden in die Augen des Partners zu schauen. Dort zeigt man Freundlichkeit und Respekt durch intensiven Körperkontakt. Und das wiederum wäre unter Deutschen inakzeptabel. Tabus kommen und gehen und sind ungeschriebene Gesetze, um gesellschaftliche Beziehungen zu regeln. Was passieren kann, wenn es keine Tabus mehr gibt, können wir bereits in den sozialen Netzwerken beobachten.

Tabus können positiv dazu beitragen, unsere unterschiedlichen Kulturen zu verstehen und zu akzeptieren. Vorausgesetzt, dass das freie Denken nicht tabuisiert wird.

Quellen:
¹Ärzte Zeiting online. Pete Smith: HIV – bei Flüchtlingen oft ein Tabu-Thema. Erschienen am 27.03.2018. Abgerufen am 13.06.2018.
²Neue Osnabrücker Zeitung. Sandra Dorn: Aus der Tabuzone: Flüchtlinge sprechen in Osnabrück über Sex und Aids. Erschienen am 05.04.2018. Abgerufen am 13.06.2018.

Autor: Leonardo De Araújo

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Autorengruppe
Leonardo De Araujo
Leonardo De Araujo, geboren in Rio de Janeiro, Brasilien lebt seit etwas mehr als 30 Jahren in Deutschland, vorwiegend in Hamburg. Nach einigen Berufsjahren in Werbeagenturen hat er 35 Jahre in der Fernsehproduktion gearbeitet. Nebenbei hat er sich auch als Drehbuchautor und Fotograf beschäftigt – und für das Flüchtling-Magazin, heute kohero, geschrieben.

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