Schaffen wir das? Wer schafft was? Oder schafft es uns?
2015. Die Fernsehbilder von Flüchtenden, die nahezu pausenlos in Nachrichten und Dokumentationen zu sehen sind, beunruhigen und beschäftigen mich sehr. So sehr, dass ich nicht mehr wirklich schreiben kann. Die Bilder, die Schicksale, lähmen mich. Meine Kreativität ist regelrecht verstopft. Gleichzeitig verstecke ich mich aber auch hinter meinem „Künstlerin-sein“. Ich bin Autorin, Künstlerin und keine anpackende, ehrenamtliche Helferin. Dafür habe ich keine Zeit. Ich muss meine Zeit für die Kunst freihalten. Außerdem ist das viel zu viel „echtes Leben“.
Vielleicht, also möglicherweise … eventuell … kann ich zu dem Thema etwas schreiben. Aus einer Beobachter-Position heraus. Kurzgeschichten oder ein Theaterstück über geflüchtete Menschen. Das ist auch wichtig. Das hilft auch. Ja, genau. Guter Plan.
November 2015. In der Schule meines Sohnes gründet eine sehr engagierte Mutter, selbst einst als unbegleitete, minderjährige Jugendliche aus dem Iran nach Deutschland gekommen, eine Arbeitsgemeinschaft. Patenschaften für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge sollen vermittelt werden. Wir telefonieren. Ihre Geschichte wäre vielleicht ein Anfang. Ein Einstieg. Ihre Erlebnisse von damals könnte ich vielleicht mit Berichten aus der Gegenwart in einem Text verknüpfen. Ob ich in der AG mitarbeiten will? Ich? Also … nun … ich kann ja vielleicht ein paar Mails schreiben. Okay, das ist keine Sache. Na gut. Mache ich.
Gemeinsam suchen, lachen und ins Gespräch kommen
Januar 2016. Neben Mails schreibe ich Infozettel, telefoniere, treffe mich mit den anderen Müttern der AG und die AG, also wir, machen einen Infostand. Und dann höre ich: A. aus Afghanistan, 18 Jahre, sucht einen Jogging-Partner. Huch. Nun ja, mein Mann lief früher Marathon … vielleicht? Ja, macht er. Und dann kann A. natürlich gerne nach dem Laufen mit uns Mittagessen und nächsten Sonntag zum Kaffee kommen. Natürlich. Gerne.
Februar 2016. A. kommt jetzt öfter zu uns. Ich schreibe über das Kindertheatertreffen Hamburg und A. kommt einfach mit zu einer Aufführung. Wir amüsieren uns gemeinsam.
März 2016. Seit 17 Jahren gibt es Hajusom in Hamburg, die Theatergruppe, die mit jugendlichen Flüchtlingen regelmäßig tolle Produktionen hervorbringt. Das interessiert mich als Theaterfrau. Vielleicht kann ich auch mit einer Gruppe jugendlicher Flüchtlinge Theater spielen? Ich besuche eine Probe der Hajusom-Nachwuchsgruppe. Als die Probe zu Ende geht, hilft mir ein junger Darsteller, F. aus Afghanistan, 18 Jahre, den verschlungenen Weg aus dem Bunker Feldstraße, in dem Hajusom probt, zu finden. Wir lachen über den Blödsinn, den wir dabei machen und kommen ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass A. und F. Freunde sind und beim nächsten Sonntagskaffee sind dann beide bei uns zu Besuch. Ach ja und in der Woche davor waren wir zu viert bei einem Konzert in einem Stadtteil-Kulturzentrum.
„Warten, hoffen, verdrängen und weitermachen“
April 2016. Eine WhatsApp-Nachricht von F. erschüttert uns: Sein Asyl-Antrag wurde abgelehnt. Er soll freiwillig innerhalb von 30 Tagen nach Afghanistan ausreisen. Mein Mann und ich fahren zu seiner Wohnung und versuchen ihm beizustehen. Er, bzw. sein Anwalt, wird sofort Widerspruch einreichen. F. ist schon wieder etwas ruhiger, als er uns davon erzählt. Er hat wieder Hoffnung, nachdem er von dieser, wohl „normalen“ Asyl-Vorgehensweise erfuhr. Normal scheint zu sein: Erst zwei Jahre zu warten, dann wird der Asylantrag abgelehnt, dann wird sofort Widerspruch einlegen, um weiter zu warten. Warten, hoffen, verdrängen und weitermachen. Wir versuchen F. Zuversicht zu geben und ich schreibe für ihn und für seinen Anwalt einen Brief: „F., der Freund unserer Familie“.
Beim ihm zu Besuch ist B., ein weiterer jugendlicher Freund aus Afghanistan, der uns fragt: „Entschuldigung, ich würde gerne Ihre Lebenserfahrung nutzen. Wie findet man hier in Deutschland eine Ausbildung?“ Diese Frage war der Beginn einer weiteren Bekanntschaft mit einem jungen Afghanen, den wir jetzt begleiten.
Bildnerisch re-agieren: „gezeichnet – zu Fuß aus Afghanistan“
Mai 2016. Ich habe endlich eine Form gefunden, das Thema Flucht umzusetzen. Nicht schreibend, sondern bildnerisch konnte ich re-agieren: „gezeichnet – zu Fuß aus Afghanistan“ entsteht (s. Abb.). Schreiben geht immer noch nicht.
Plötzlich gibt es unzählige Fragen „meiner“ Jungs, deren Antworten viel Zeit beanspruchen: Wie findet ein jugendlicher Flüchtling mit einer Art Hauptschulabschluss eine Ausbildung? Was gibt es überhaupt für Berufe mit diesem Schulabschluss? Kann ein Flüchtling, über 18, weiter zur Schule gehen und einen Realschulabschluss machen? Viele Fragen. Sehr viele. Und auf jede Frage gibt es viele Antworten. Ein Antworten-Bingo. Wie soll das jemand durchschauen, der Deutsch nicht als Muttersprache spricht? Selbst ich als Deutsche verstehe so vieles nicht. Und die sogenannten „Zuständigen“ widersprechen sich in ihren Aussagen permanent. Hilfe.
Juli 2016. Ich schreibe wieder… neben einem tauglichen Lebenslauf, Bewerbungen für Praktika mit einem „meiner“ Jungs zusammen. Und ein neues Theaterstück, in das sich – seltsamerweise – das Thema Flucht eingeschlichen hat…
Quelle: Veröffentlicht im online-Magazin myvoice* am 26. Juli 2016.
*Das myvoice-project wurde 2015 nach dem „Sommer der Migration“ gegründet und trat an, um schwerpunktmäßig Geschichten von geflüchteten Menschen zu veröffentlichen. Das Magazin ruht seit Anfang 2017 und hat im Flüchtling-Magazin quasi ein erweitertes Nachfolgeformat gefunden.