Die Statue ist sehr groß und sie steht auf einem sehr hohen, grün bewaldeten Berg. Christus steht mit offenen Armen da oben und scheint alle in dieser Stadt zu schützen. Auch mich, denke ich. Das ist das erste was ein Ausländer sieht, entweder aus dem Flugzeug oder wenn man vor dem Flughafen steht, wie ich gerade, begleitet von zwei Mitarbeitern einer NGO, die sich um die Belange von Flüchtlingen kümmert. Meine Belange.
Wir fuhren die Avenida Brasil entlang, eine gefühlt hundert Kilometer lange Schlange, die sich bis zur Nordspitze der Stadt streckt. Der Verkehr war mörderisch. Noch nie in meinem Leben hatte ich so viele Autos gesehen. Wir fuhren durch Gewerbegebiete, dicht an dicht mit nicht so schönen Wohnvierteln gebaut. Später lernte ich den Namen solche Viertel: Favelas heißen sie. Sie sahen arm aber auch recht
bunt aus. Ein bisschen wie in einer zerbombten Stadt. Aber das hatten diese Bewohner zum Glück nicht erlebt. Ich selbst aber, ich hatte die Zerstörung in zerbombten Städten schon gesehen.
Wie Liebe auf den ersten Blick: Hier bin ich sicher
Nach einer guten Stunde waren wir bei meiner neuen Bleibe. Zumindest vorübergehend. Das Viertel heißt Marechal Hermes und wurde im Jahr 1913 zur ersten geplanten Wohngegend in Rio de Janeiro. Eine neue Heimat für die vielen Arbeiter, die nach Rio de Janeiro kamen. Ein Ort mit Schulen, Krankenhäusern, breiten grüne Alleen und genug Transport. Der Ort zeigt noch einige gute Beispiele für
schöne Altbauten und Einfamilienhäusern der damaligen Mittelklasse, Manager und Besitzer verschiedener kleiner Fabriken der Gegend. Aber das sind lange vergangene Zeiten, wie vieles in der Nordzone von Rio. Jetzt sieht das Ganze etwas heruntergekommen aus. Doch für mich war es fast wie Liebe auf den ersten Blick: Hier bin ich sicher und ich werde das Beste daraus machen.
Das Haus sah recht gut aus und ich bekam ein Zimmer, das ich mit einem anderen Flüchtling teilen sollte. Meine Begleiter erklärten mir, das Haus gehört einem sogenannten Bankier des verbotenen Tierspiels, eine Art Lotterie, die jeden Tag in jeder großen Stadt Brasiliens gespielt wird. Der Mann war sehr reich und einflussreich. Er unterstützte auch die Sambaschule des Viertels, so wie die meisten seiner Freunde dieser Mafia der wohltätigen Herren.
Auch wenn das Spiel verboten ist machen alle mit: Manager, Arbeiter, Hausmädchen und Polizeibeamten. Später habe ich gelernt, die Ergebnisse zu lesen, die an jedem Nachmittag an
Lampenmasten in kleinen Zetteln klebten. Dieser Mann, mein Mäzen, hatte einige seiner Häuser für Flüchtlinge angeboten, aus welchem Grund auch immer. Uns durfte es egal sein. Man wusste es und sprach nicht darüber.
Musik wie ein Schrei der Lebensfreude
Ein paar Tage später, es war ein Samstagabend, holten uns die netten Leute der NGO, um mit uns eine Runde durch die Gegend zu drehen. Wir hielten an einem großen Platz an, die Praca Montese, der von
Kneipen und Restaurants umgeben war. Es fiel mir auf, dass viele Menschen mit verschiedenen Musikinstrumenten am Platz saßen. Für ein Moment wurde ich durch dieses Bild in meine alte Heimat versetzt. Dort war es für die Nachbarn üblich, gemeinsam Musik zu machen. Jung und Alt, alle kamen zusammen, um den warmen Abend zu feiern. Und dann kam der Krieg und die Musik verstummte. Aber hier hört sich diese für mich völlig neue Musik an wie ein Schrei der Lebensfreude. Ein Gefühl, dass
auch durch das Tanzen noch kräftiger ausgedrückt wurde.
Die Paare kreisten eng umschlungen zu den heißen Klängen und zum Gesang. So eng beieinander, dass sie in meinen Augen beinah zusammenschmolzen. Einer der Mitarbeiter der NGO sah meinen
ungläubigen Gesichtsausdruck und zwinkerte mir zu, bevor er eine Frau zum Tanzen aufforderte. So was hatte ich noch nie gesehen, diese körperliche Freiheit fand in meiner Kultur auf keinen Fall in der Öffentlichkeit statt. Und hier, so weit weg von meinem wahren Zuhause, schien sich keiner daran zu stören, ganz im Gegenteil. Auch die Kinder, die nebenan Fußball spielten, verloren keinen Blick für das Geschehen. Nur der Ball war für sie wichtig. Und so liebevoll wie sie mit ihm umgingen, machte es klar, dass sie später genauso wie die Erwachsene tanzen würden.
Das war die erste überraschende Begegnung mit der Kultur dieser neuen Heimat, die mich zu
einer neuen Orientierung zwang. Es sollte nicht die letzte werden und durch einige davon fand ich einen Teil meiner Kultur in der Fremde wieder.
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