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Frauen durch Literatur stärken – Bibliotheken im ländlichen Afghanistan

Wie bringt man feministisches Gedankengut in afghanische Dörfer? Homaira Adeel hat eine Antwort gefunden. Sie gründet Bibliotheken im Hindukusch-Gebirge. Sie will Frauen die Möglichkeit geben, sich weiterzubilden und in Kontakt mit feministischer Literatur zu kommen. Denn sie weiß: Entgegen aller Vorurteile, denen sie in Afghanistan begegnet ist, lesen die „Dorffrauen“ gerne. 

Homaira Adeel diskutiert mit skeptischen Männern auf dem Land

Zur Person

Homaira kam 2012 nach Deutschland. Heute lebt sie in Berlin und Greifswald, wo sie Psychologie studiert. In Afghanistan arbeitete sie im Medienbereich. Schon mit 12 Jahren als Moderatorin im Kinderfernsehen zu sehen, wuchs Homaira im Fernsehen auf und machte Karriere bis zu den Hauptnachrichten. Weitere Stationen waren die Pressebüros des Parlaments und des Präsidenten. Persönlich geprägt wurde sie besonders durch ihre Mutter, die alleinerziehend war und dagegen kämpfte, dass ihre fünf Töchter jung verheiratet wurden. „Das Leben meiner Mutter ist für mich wie ein Buch“, sagt Homaira

Du setzt dich seit langem für Frauenrechte ein. Was motiviert dich dazu?

Die Ungerechtigkeit, die Frauen jeden Tag in Afghanistan erleben. Wenn ich sehe, dass Mädchen schlechtere Bildungschancen als Jungen bzw. gar kein Recht auf Bildung haben, wenn ich höre, dass unser Nachbar seine 16-jährige Tochter verheiratet hat, wenn ich Frauen mit blauen Augen und gebrochenen Nasen sehe, ist es für mich selbstverständlich, mich für Frauenrechte einzusetzen. Ich werde oft gefragt, warum ich das mache. Wenn man Afghanistan kennt, aber auch wenn man sich die Situation von Frauen auf der ganzen Welt anschaut, erübrigt sich diese Frage.

Du hast Bibliotheken in ländlichen Regionen Afghanistans gegründet. Wieso hast du diese Gegend gewählt?

Ich habe in den Dörfern mal Frauen getroffen, die zur Schule gegangen sind, sind gebildet und jetzt sind Sie in eine ungewollte Ehe und leben sie an einem Ort, an dem es nichts gibt. Man blickt von einem Berg zum anderen und sieht nur Wohnhäuser. Ich habe eine Frau gefragt, was sie in ihrer Freizeit macht. Sie sagte, sie liest gerne Bücher. Als ich nachgefragt habe, was sie gerne liest, hat sie erzählt, dass sie den gleichen Roman immer wieder liest, weil sie nur dieses eine Buch hat. Ich war schockiert. 

Im Sommer machen viele Leute Ausflüge in die Region, aber niemand fragt sich, wie die Menschen in den Bergen leben. Die Gegend bekommt weder von der Politik Afghanistans noch von internationalen Partnern Aufmerksamkeit. Das war der Auslöser, diese Gegend zu wählen. 2019 habe ich die Bibliothek im Hindukusch-Gebirge gegründet. Mittlerweile gibt es eine weitere.

Was genau glaubst du, kannst du mit den Bibliotheken erreichen?

Als ich die erste Bibliothek aufbauen wollte, gab es viele Männer, die dagegen waren. Viele haben mir gesagt: „Dorffrauen haben viel zu tun. Sie müssen auf die Kinder aufpassen, putzen, die Tiere füttern. Sie haben keine Zeit und Lust zum Lesen.“ Viele Frauen glauben mittlerweile selbst, dass sie nur für diese Aufgaben erschaffen wurden. Es gibt aber auch Frauen, die anders denken. Allerdings unterstützt sie niemand. Genau das möchte ich mit meiner Bibliothek ändern. Ich möchte den Frauen in den Dörfern die Möglichkeit geben, zu lesen und nachzudenken. Mädchen dürfen oft nach der sechsten Klasse nicht mehr in die Schule gehen, weil der Unterricht gemeinsam mit Jungs stattfindet – geschweige denn zur Universität. Ich biete einen Raum an, der Weiterbildung ermöglicht und gleichzeitig Sicherheit gibt.

Welche Rückmeldung bekommst du aus den Dörfern? Wie werden die Bibliotheken genutzt?

Seit die Bibliothek gebaut worden ist, bekomme ich viele Anrufe mit positiver Rückmeldung und auch Männer schreiben mir, wie gerne ihre Kinder die Bibliothek nutzen. Das gibt mir sehr viel Energie. Eine Frau hat mir erzählt, dass ihre Schwester 15 Bücher ausgeliehen hat. Sie hat sie mitgenommen, als sie mit ihrem Mann in ein anderes Dorf gezogen ist. Die Frau meinte: „Mach dir keine Sorgen, wir bringen die Bücher zurück.“ Ich dachte nur: „Ich mach mir keine Sorgen. Es macht mich so glücklich, dass diese Frauen die Bücher nutzen.“

Welche weiteren Pläne gibt es?

Ich habe vor, weitere Bibliotheken zu bauen, weil ich so viele Anfragen kriege. Da ist unglaublich. Die Menschen haben mich am Anfang so demotiviert, aber jetzt ist die Nachfrage sehr hoch. Auf der facebook-Seite der Bibliothek bekomme ich sehr viele Nachrichten. Nächstes Jahr möchte ich eine weitere Bibliothek in einem Dorf bauen. Ich hoffe, dass ich dafür Unterstützung bekomme. 

Wie organisierst du dein Projekt von Deutschland aus?

Ich bin aktuell dabei, ein System aufzubauen, durch das ich Freiwillige vor Ort habe, die sich um die Organisation kümmern. Ein solches Team zu bilden, ist nicht so einfach, weil Freiwilligenarbeit in Afghanistan nicht so stark verankert ist wie hier. Trotzdem versuche ich es.

Wie hast du das Projekt bisher finanziert?

Mit meinen eigenen Mitteln. In der ersten Bibliothek standen teilweise meine eigenen Bücher. Mein Bruder hat viel beigesteuert. Ungefähr 200 Bücher habe ich am Anfang gespendet bekommen.

Was glaubst du, welche Bedeutung Literatur und Bücher für den Feminismus haben?

Literatur und Sprache hatten in der Geschichte immer eine große Bedeutung für die Rollen- und Identitätsbildung. Daher ist es sehr wichtig, dass es mehr feministische Literatur bzw. weibliche Schriftstellerinnen gibt. Besonders in einem Land wie Afghanistan, wo Frauen immer noch damit aufwachsen, sich als das „zweite Geschlecht“ zu sehen, kann feministische Literatur helfen, diese Gedanken zu verändern, sich selbst neu zu definieren und gegen das Patriarchat zu kämpfen.

Heute gibt es das Internet, in dem man viel nachlesen kann. Ist die Bedeutung von Büchern trotzdem noch so groß?

Die Rolle des Internets kann man natürlich nicht leugnen, aber nicht alle haben Zugang dazu. In den afghanischen Dörfern gibt es kein Internet und keinen Strom. Für mich sind Bücher außerdem immer noch vertrauenswürdiger im Vergleich zum Googlen im Netz. Internet und Bibliotheken haben beide ihre Vor- und Nachteile. 

Was bedeutet Lesen für dich persönlich? Hast du ein Lieblingsbuch, das dich geprägt hat?

Das erste Buch, das mich zum Nachdenken gebracht hat war „Das unnütze Geschlecht“ von Oriana Fallaci. Was mich aber noch mehr geprägt hat, ist das Leben meine Mutter. Ihr Leben ist wie ein Buch für mich. Sie war eine Revolutionärin. 

Sie war alleinerziehend und hatte fünf Töchter. Wenn sie sich nicht für uns eingesetzt hätte, wären meine Schwestern und ich wahrscheinlich als Kinder verheiratet worden. Die Bibliothek habe ich deswegen auch nach meiner Mutter benannt.

Du hast gesagt, für dich ist es keine Frage, dich für Frauen einzusetzen. Denn überall auf der Welt sind Frauen benachteiligt. Die Probleme in Afghanistan hast du schon ein bisschen geschildert. Wie erlebst du die Situation von Frauen und den Feminismus hier in Deutschland?

Frauen sind überall benachteiligt, aber auf unterschiedliche Art und Weise. Während Feministinnen in Afghanistan dafür kämpfen, als Frau frei leben zu dürfen und nicht ermordet zu werden, kämpfen Frauen in Deutschland für Führungsposition und Lohngleichheit oder gegen Sexismus in den Medien. Alle Beispiele zeigen, dass Frau-sein nirgendwo einfach ist. Wir müssen eben für ganz unterschiedliche Sachen kämpfen. Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten. Ich bin an einem Projekt beteiligt, in dem wir Mädchen in Schulen auf andere Berufe aufmerksam machen als die, die sie bisher meistens gewählt haben, also Frisörin, Krankenschwester etc. Wir wollen ihnen anhand von Beispielen zeigen, dass sie auch Pilotin oder Ingenieurin werden können. Das ist in Afghanistan ähnlich. Dort denken die Mädchen auch, sie sollten Arzthelferin oder Lehrerin werden. 

In Deutschland ist die Sprache immer wieder in der Diskussion. Gendern ist ein wichtiger Teil der feministischen Bewegung. Ich frage mich oft, wie das in anderen Sprachen und Ländern ist.

Unsere Literatur ist voll von Frauenfeindlichkeit. So wie es die Werke vieler Philosophen auch hier sind. Die afghanische Literatur ist voll von Klischees gegen Frauen. Es gibt eine kleine Bewegung, die das ändern möchte, aber die Proteste sind nicht so groß wie hier. Das Gender-Sternchen und das dritte Geschlecht spielen im afghanischen Feminismus noch keine Rolle. Im Moment kämpfen wir dafür, dass die Klischees in der Literatur erst einmal sichtbar werden, um zu zeigen, dass sie nicht der Wahrheit entsprechen. Es geht meistens darum, dagegen zu kämpfen, dass Frauen als „das zweite Geschlecht“ angesehen werden.

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Anna hat Medienwissenschaften studiert und promoviert in der Erwachsenenbildung. Bei kohero koordiniert sie die Online-Redaktion. In ihrem zweiten Job arbeitet sie für eine Hamburger Stiftung als Projektkoordinatorin eines Weiterbildungsprogramms. „kohero ermöglicht mir, online und offline gemeinsam mit tollen Menschen für gesellschaftlichen Zusammenhalts zu kämpfen. Jede*r hat eine Geschichte zu erzählen – dieses Motto des Magazins ist für mich die Grundlage dafür!“

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