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Überfall auf Charlie Hebdo-Je suis Charlie in Ost-Aleppo

Aus einer syrischen Rebellenhochburg zeigte ich mich solidarisch mit den Journalist*innen von Charlie Hebdo. Ehe ich mich versah, wurde ich der Abkehr vom Glauben bezichtigt.

Je Suis Charlie

„Illa Rasoul Allah, respektiere Muhammad.“
Dutzende Accounts in meinem Newsfeed benutzten diesen Rahmen für ihr Facebook Profilbild in der Woche nach dem Mord an Samuel Paty, einem französischen Lehrer in einer Vorstadt im Norden von Paris.

Überfall auf Charlie Hebdo

Der Satz, „Illa Rasoul Allah“, bedeutet wörtlich: “Niemand außer dem Gesandten Gottes“, brachte mich aus der Wärme eines Treffens mit Freunden in London zurück nach Ost-Aleppo vor fünf Jahren. Mein Herz raste und meine Adern waren blutleer; ich war am Rande einer Panikattacke. Seither habe ich kaum geschlafen.
Am verschneiten, kalten Morgen des siebten Januars 2015 bereitete ich mich auf den letzten Tag meines Medientrainings für Journalist*innen vor, als mein Handy von Nachrichten bombardiert wurde. „Ein Anschlag auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo in Paris.“ „Zwei bewaffnete Männer töten 12 Menschen und verletzen 11 weitere.“ „Die Bewaffneten schrien, ‚wir haben den Propheten Muhammad gerächt‘, als sie die Namen der Journalisten riefen.“

Überleben in Ost-Aleppo

Ich hatte gerade eine Begegnung mit Boden-Boden Raketenangriffen überlebt, die wir Fil oder Elephantenraketen nannten. Außerdem schwere Kämpfe und Einsätze von Kampfflugzeugen, als syrische Regimetruppen versuchen, den Bezirk Saif al-Dawla zu erreichen. Dort lebte ich zu der Zeit.

Mein Gebäude war das letzte bewohnte Haus vor einem Checkpoint, der von der bewaffneten Opposition in Aleppo besetzt war. Regierungstruppen trennten sie durch eine Barrikade aus umgekippten Mülltonnen. Ich hatte die Entscheidung, an der Front zu leben, bewusst getroffen: Es gab zwar das Risiko, im Kreuzfeuer getroffen zu werden, aber es wurden wesentlich weniger von den berüchtigten Fassbomben angegriffen: Fässer gefüllt mit TNT und Granatsplittern, die völlig unberechenbar waren und oft von Flugzeugen des Regimes auf zivile Gebiete abgeworfen wurden.  Mein Viertel war jedoch zu nah an den Truppen des Regimes, um die Fässer abzuwerfen, ohne möglicherweise die eigenen Truppen zu treffen.

Meine Reaktion auf den Anschlag auf Charlie Hebdo

Ich war frustriert und wütend, als ich die Nachrichten über den Anschlag auf Charlie Hebdo las. Ich wollte mein Mitgefühl ausdrücken für Menschen wie mich, die mit Plänen und Aufgaben aufwachten, nur um plötzlich an ihrem Arbeitsplatz exekutiert zu werden.

So nahm ich einen Marker und schrieb “Je suis Charlie” auf ein Stück Pappe, rollte es ein und ging raus. Dann ging ich am Checkpoint vorbei zum Niemandsland, bis zum Salah al-Din Platz. Der Bezirk war geteilt zwischen Rebellen und Regierungstruppen, und der Platz war die Grenze. Die Umgebung wurde oft von Scharfschützen in der Saad Moschee auf der Regimeseite attackiert. Der Platz war zum Denkmal für die Opposition in der Stadt geworden. Also rollte ich mein Poster aus, und mein Partner schoss ein Foto von mir, mit dem Poster vor dem Gesicht. Dann gingen wir weiter zu einem Kulturzentrum namens Jadal, wo ich das Training machte.

Es waren acht Journalisten im Programm, unter ihnen Homam Najjar. Der islamische Staat tötete ihn drei Monate später durch eine Autobombe.

Die Folgen

Nachdem wir das Training beendet hatten, ging ich zurück nach Hause, um über den Schock nach dem Attentat in Paris zu lesen. Ich twitterte das Foto vom Morgen mit der Beschreibung: „Ich weiß, was es bedeutet, sich zu fürchten und von kriminellen Terroristen getötet zu werden. Ich bin #syrisch. Ich fühle euren Schmerz. Ich bin #Syrerin. #JeSuisCharlie.“

Über Nacht bekam ich tausende Reaktionen auf den Tweet. Das Bild gelangte auf Facebook, was ich am meisten fürchtete: Denn viele der Kämpfer und Aktivisten in der Stadt waren dort aktiv.

Den ganzen Tag über verhielt ich mich ruhig, während die Debatten um mich tobten. Die Reaktionen reichten von Würdigungen für die „mutige Frau“, die die von Dschihadisten getöteten Journalist*innen unterstützte, hin zu Vorwürfen der Gehirnwäsche: Ich würde mein Leben riskieren, um vom „Westen gemocht“ zu werden. Die Schlimmsten beschuldigten mich der Blasphemie, für die Verurteilung des Mordes an „Gotteslästerern“.

Panikattacken

Am nächsten Tag ging ich wieder in das Kulturzentrum Jadal, um ein neues Projekt, an dem ich arbeitete, zu besprechen: Schulmädchen im Journalismus auszubilden. Die Direktorin schien ärgerlich zu sein, als ich mit meinem Freund Salman ankam. Ich begann zu sprechen, aber sie hob den Zeigefinger und unterbrach mich. Sie sagte zweimal: “Illa Rasoul Allah.“

Ich hatte die erste Panikattacke meines Lebens. Es war, als ob mein Herz aus meiner Brust stürzte. Meinen Atem konnte ich hören, flach und doch laut, und meinen Bauch, knirschend wie Herbstblätter. Nach dieser hatte ich noch viele Panikattacken, auch als ich diesen Text in meiner sicheren Zuflucht in London schrieb und editierte.

Salman sagte etwas, das ich nicht verstand. Ich versuchte, mein verängstigtes Ich beisammenzuhalten, präsent zu bleiben. Ich hörte sie sagen: “Ich habe dich nicht erwartet heute; sie hätten dich heute früh kriegen sollen.“ Mit ‘sie’ meinte sie die islamischen Rebellen, die die Rebellenseite der Stadt kontrollierten.

Ich schleppte meinen bleichen, zitternden Körper zurück nach Hause, nur um Angst zu erleben, wie ich sie noch nie in meinem Leben erlebt hatte. Ich löschte meine Tweets, deaktivierte meinen Account, entfernte Bilder ohne Kopftuch von mir aus Facebook, und plante meinen Tod.

Die Lüge

Dann entschied ich mich zu lügen und zu behaupten, dass ich nicht „für die, die den Propheten beleidigten“ einstand. Stattdessen wollte ich die Aufmerksamkeit auf die Syrer*innen, die vom Regime getötet wurden, lenken. Ich schrieb sogar einen zurückdatierten Blogpost, um meine Lüge zu beweisen. Einige der Aktivisten, die meine Lüge glaubten, darunter auch die Direktorin, die meine Angstspirale ausgelöst hatte, änderten ihre Meinung. Sie verlangten Gnade für mich, da alles nur ein Missverständnis gewesen sei. Viele wagten nicht, ihre Unterstützung zu artikulieren.

Doch die Dinge eskalierten. Im selben Kulturzentrum in Salah al-Din wurden syrische Magazine, die die Opfer des Anschlages unterstützten, verbrannt. In den Straßen von Aleppo brachen Demonstrationen aus. Hierbei verbrannten Protestierende das Logo des Magazins und formulierten ihre Unterstützung für die Verbrechen der Dschihadisten.

Die mutigste Unterstützung erhielt ich von einigen Aktivist*innen, die meinen Blogpost teilen und meine Lüge betonten. Nur drei Menschen kannten meine wirkliche Meinung: Dass ich gegen die Tötung eines jeden Menschen war, auch derer, die sich der „Blasphemie“ schuldig machten.

Furcht vor Rebellenführern

Das surreale war, dass ein Rebellenführer, der mich für dieses vermeintliche Verbrechen verfolgte, selbst Kämpfe gegen den islamischen Staat in Aleppo angeführt hatte. Er war bekannt für seinen Mut im Kampf gegen den IS. Mehrere Aktivist*innen, die die Dschihadisten ablehnten, unterstützten ihre Operationen gegen das syrische Regime und ihre Verbrechen gegen Journalist*innen, mit denen sie nicht einer Meinung waren.

Der andere Rebellenführer, den ich am meisten fürchtete, war ein Überlebender aus Syriens grausamen Regierungsgefängnissen. Er war in einem Austauschdeal freigelassen worden, danach war er Extremist geworden. Er befahl jemandem meinen Blog zu durchsuchen, um Beweise dafür zu finden, dass ich den Tod verdiente. Dieser Mann war zufällig einer der Journalisten, die ich am Tag des Anschlages geschult hatte. Ich hatte ihm beigebracht, Artikel zu schreiben.

Während ich auf den Überfall der Rebellen auf meine Wohnung wartete, zerstörte ich meinen Weihnachtsbaum. Ich nahm die Papierschnipsel ab, die alle meine Neujahrswünsche enthielten (mein größter Wunsch war es, am Leben zu bleiben), und legte sie in einen Müllbeutel. Salman war bei mir, und er war bewaffnet. „Sie kriegen dich nicht, außer wenn ich tot bin“, sagte er. Er legte eine Granate an das Küchenfenster und eine weitere in das Schlafzimmer. Er sagte mir, ich sollte eine Pistole bereithalten und sie töten, bevor sie mich töteten. Ich weigerte mich, sie zu berühren. Sie werden für immer als Schande gelten, wenn sie eine unbewaffnete Journalistin in ihrer Wohnung überfallen und töten, sagte ich.

Veränderung meines Lebens

Kampfflugzeuge hingen über uns in diesen endlosen Stunden, aber dieses Mal versteckte ich mich nicht im Flur. Ein willkürlicher Tod schien ein Luxus zu sein. Nur Momente trennen einen davon, als Martyrerin von den Revolutionär*innen gefeiert zu werden, oder als Ungläubige, die den Tod verdient, verdammt zu werden.

Mein Leben, Ich, änderte sich an diesem Tag für immer.

Ich erlebte Schlaflosigkeit, mit ständigem, schmerzhaftem Ziehen im Bauch. Und ständig untersuchte ich mein Auto nach Sprengstoff.

Dann wurde alles noch schlimmer. Der französische Präsident zu der Zeit, François Hollande, erwähnte meinen vollen Namen in einer Rede über den Anschlag auf Charlie Hebdo, als Beispiel für länderübergreifendes Mitgefühl und Empathie.
Von Angst gelähmt, brach ich zusammen. Ich weinte mich in den Schlaf.

Das Scharia-Gericht klagte mich in zwei Punkten des Abkehrs vom Glauben an: Erstens für Charlie Hebdo und zweitens für die Unterstützung der Homosexualität. Denn der Journalist, den ich geschult hatte, fand eine bestimmte Zeile in meinem Blog. Hierin schrieb ich, dass meine Tochter anstatt zu kämpfen, besser liberale Werte, wie das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe, verteidigen sollte.

Angst wurde ein Teil meines Körpers. Sie blieb, bis ich es nicht mehr aushielt und mich entschied, Syrien zu verlassen.

Rückblick

Wenn ich heute zurückblicke, verwundert es mich, wie man andere Menschen oder Konflikte in Schwarz und Weiß betrachten und wie man die Welt in Heilige oder Verdammte einteilen kann. Es scheint mir, dass nur wenige Menschen komplexe Narrative offen betrachten können. Ich habe einen Krieg überlebt. Und es verblüfft mich, dass irgendjemand, der diese extrem komplexen Realitäten ebenfalls erlebt hat, die Welt in wir gegen sie, Assad gegen den IS, Rebellen gegen das Regime, Frankreich gegen den Islam, oder der Islam gegen den Westen einteilen kann.

Als syrische Geflüchtete in GB

Ich habe zwar nur wenige vernünftige Ideen. Aber eine ist, dass oberflächliche Kategorisierung den Spalt zwischen uns nur vergrößert. Sie trägt den Extremisten auf allen Seiten zu, die mächtiger und gewalttätiger werden. Das ist, gemeinsam mit Diskriminierung, ein Gefühl der Überlegenheit und kolonialer Politik und Denkweisen, ein eindimensionales Denken. Es erlaubt westlichen Regierungen, arabische Diktatoren zu unterstützen, die Journalist*innen und kritische Denker auf der Suche nach Stabilität und Schutz vor Extremismus einsperren.

Als eine syrische Geflüchtete im vereinigten Königreich und häufig Reisende in den Westen kann ich kaum all die Male zählen, die ich aufgrund meiner Herkunft als Mensch zweiter Klasse behandelt wurde. Und dies geschieht, obwohl mein Englisch fließend ist, ich internationale Auszeichnungen und einen britischen Masterabschluss habe. Ich werde immer die Geflüchtete aus dem globalen Süden sein. Sogar in meinem Berufsfeld werde ich von westlichen Verlagen nur nach meinen Erfahrungen als Syrerin gefragt.

Der Teufelskreis wird angetrieben von Ablehnung, Ghettoisierung und von dem Zwang, in Slums zu leben. Er wird angetrieben von der Hassrede auf Mainstream-Plattformen, von Faschismus, der ein Akt des Patriotismus ist.
Die Segregation wächst, die Terroristen gewinnen.

Ausblick

An all das dachte ich nicht, als ich das Poster in Solidarität mit den Opfern von Charlie Hebdo hochhielt. Es war einfach klar für mich, dass niemand für seine Taten, Worte oder Glauben getötet werden sollte.

Aber es ist vielleicht naiv von Menschen zu erwarten, ihre Vorurteile zugunsten des Guten aufzugeben. Ich dachte, es sei gesunder Menschenverstand, sich gegen Gewalt zu stellen.

Dennoch ist der Trieb zum Extremismus unaufhaltbar. Verbrechen wie der Mord an Samuel Paty werden nicht nur gerechtfertigt, sondern seine Mörder werden auch noch gefeiert. Wie in meiner Heimatstadt Idlib, im späten Oktober.

In den letzten zehn Jahren des Konfliktes in Syrien lernte ich auf die harte Tour, wie tödlich Polarisierung sein kann, und wie viele Brücken wir brauchen, um sie zu bewältigen. Vielleicht liegt der Schlüssel bei uns, mit jedem Schritt, den wir gegen die Normen auf die andere Seite machen.

Aber während einige ihr Leben riskieren, um Brücken der Empathie zu bauen, provozieren Politiker aus Privileg und Machtpositionen Hass und Diskriminierung.

In Syrien, im Irak, Jemen und in Ägypten müssen wir ein Erbe der Teilung überkommen, das im letzten Jahrzehnt tausende Leben gekostet hat. Da sich nun Europa weiter spaltet, sollten wir uns vielleicht an die Menschen in der arabischen Welt erinnern:  Die, die blieben, und die, die für ihr Leben flüchten mussten, die für ein freies Syrien kämpften, für Berichterstattung während der Kämpfe und für eine freie Meinungsäußerung.

Diese Artikel wurde auf Newlinesmag auf Englisch veröffentlicht und von Emily Kossak ins Deutsche übersetzt.

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Autorengruppe
Zaina Erhaim ist eine preisgekrönte Journalistin und Kommunikationsmanagerin beim Institut für Kriegs- und Friedensberichterstattung (IWPR). Zaina hat einen MA in Internationalem Journalismus von der City University of London und ist derzeit ein Flüchtling in Großbritannien. Sie ist Kommunikations- und Journalistentrainerin und leitet eine feministische Kampagne zur Bekämpfung von Geschlechterstereotypen in der Region. Vor IWPR arbeitete Zaina für die BBC.

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