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Kaouther Adimis Roman ist eine Hommage an einen vergessenen Visionär

"Was uns kostbar ist", heißt der Titel von Kaouther Adimis Roman. Er ist eine Hommage an einen vergessenen Visionär, den Algerienfranzosen Edmond Charlot, der 1936 in Algier eine Buchhandlung eröffnete.

Beim Lesen ist es mir, als ob ich den Duft der Bücher einatme. Der Duft der Bücher, die mit Liebe und Sorgfalt gestaltet, gedruckt, gebunden und verlegt wurden. Meine Finger gleiten über die Einbände wie in Trance. Sie fühlen sie tastend ab wie der blinde Youcef: Leider kann ich nicht wie er eine einzige Zeile aus dem Gedächtnis zitieren. Ich spüre die Passion eines bibliophilen Menschen, der sich mit Phantasie und Leidenschaft, mit Hingabe und immer neuen Ideen in sein ganz persönliches Abenteuer stürzte.

Das Abenteuer

Ein Abenteuer, das im Jahre 1936 mit der Eröffnung der Buchhandlung “Les Vrais Richesses” in Algier begann und 2004 in Pézenas endete. Ein reiches Leben, trotz Schulden, Zerwürfnissen mit Freunden und Autoren. Trotz Papiermangel und vor allem trotz des zweiten Weltkriegs, des algerischen Unabhängigkeits- und des algerischen Bürgerkriegs.

Edmond Charlot, ein Algerienfranzose, eröffnete im Jahre 1936 eine Buchhandlung in Algier, angeregt durch die Leihbücherei der Madame Monnier in Paris. Es war eine Buchhandlung mit einem ganz besonderen Namen „Les Vrais Richesses“. Eine Novelle von Jean Giono als Taufpate. Eine Buchhandlung mit dem Slogan „Junges, von Jungen, für Junge“.  Auf ihrer Fensterscheibe verspricht sie Wertvolles: „Ein Mensch, der liest, ist doppelt wert“.

Die Vision

Charlots Vision: die Literatur und die Kultur des Mittelmeerraumes zu erobern, zu verlegen und zu präsentieren. Er wollte einen Ort der Begegnungen schaffen mit liebevoll gestalteten Büchern, mit Kunstausstellungen und Lesungen. Dazu ein Publikum aus Lehrern, Studenten, Künstlern und auch aus Arbeitern, aus Franzosen und Nativen.

Das Mare Nostrum als Wiege der europäischen Zivilisation. Als Knotenpunkt von Sprachen und Schriften, von Religionen und Philosophien, von Kunst und Kultur. Er verlegte Albert Camus’ erstes Buch und später so namhafte Autoren wie Rilke, Saint-Exupery, Gide, Bernanos, Giono, Bosco, Silone, Austen, Woolf, Moravia. Und auch algerische und kabylische Autoren wie Kateb Yacine.

Er war ein literarischer Abenteuerer, ein „Buch-Macher“, auch im spielerischen Sinne: Alles oder nichts , ein Bücher-Aktivist. Das Schreiben war für ihn ein kontemplativer Prozess, den er lieber seinen Autoren überließ. Er jedoch musste publizieren, sammeln, entdecken, fördern, fordern. Schon damals war er „gut vernetzt“.
Er war eine lebende Quelle der Ideen, der Begeisterung, der Träume und er musste sich selbst Schranken setzen, um sich nicht zu verzetteln, sich nicht in „Zettel- Träumen“ zu verlieren.

Bücher sind Schätze, Kostbarkeiten, wollen aber auch Teil des alltäglichen Lebens sein, mit Eselsohren, Notizen und Unterstreichungen.

Die Dependance

1944 musste er im befreiten Paris seinen  Militärdienst ableisten. Dort gründete er eine Dependance der Editions Charlot in den Räumlichkeiten eines ehemaligen Bordells, das durchaus literarischen Bezug hatte: Ein berühmter Kunde war Guillaume Apollinaire. Er pendelte zwischen Algier und Paris und konnte seine Familie kaum ernähren, Geldschulden, Probleme mit den Freunden und Probleme mit der Papierbeschaffung.

Als Leserin und Büchersammlerin kann ich mir Papier als eine Mangelware gar nicht vorstellen. Charlot erfand den Klappentext. Das war ein Novum in der französischen Verlagsbranche, die ihn und seine Freunde als algerische Hinterwäldler betrachtete.

Der Roman: die Schlüsselfigur

Für mich ist der alte Abdallah eine Schlüsselfigur des Romans, eine wunderbare Figur, Wächter der Bücher. Er nannte den Studenten Ryad, dem die Entrümpelung der alten Buchhandlung, die Jahre später als Stadtteilleihbücherei gedient hatte, oblag, einen Buchhandlungszerstörer. Die Räume sollten ein Restaurant für Beignetes werden. Was für eine Profanität! Abdallah, der die alten Räume mit einem Blick umarmte, und der sich von den Büchern tagtäglich begleitet und behütet fühlte. Obwohl er selbst ungern las und das Lesen erst sehr spät erlernt hatte.

Drei narrative Ebenen im Roman

Die Autorin verknüpft in ihrem Roman geschickt alternierend das Heute mit dem Gestern und dem Vorgestern. Sie lässt uns teilhaben an den Visionen und Träumen eines Büchernarren, sie führt uns durch die koloniale und postkoloniale, blutige Geschichte Algeriens.

Es gibt drei narrative Ebenen: die fiktiven – und doch realen – Aufzeichnungen von Edmond Charlot, die Erlebnisse des Studenten Ryad und die Beschreibungen der jeweiligen politischen und gesellschaft- lichen Situation: Die Erniedrigungen und Demütigungen des algerischen Volkes durch die Franzosen. Dies geschieht in einem Stakkato an menschenverachtenden, demütigenden, erniedrigenden Begriffen, die die Selbstüberhöhung der kolonialen Herrscher zementieren.

Ansonsten leise Schreibtöne, die uns das Leben in Algier, damals und heute, nahe bringen: Details, Stimmungen, Gassen, und vor allem Menschen wie die Parfumverkäuferin, Abdallah oder Ryad oder auch Moussa. Und natürlich Youcef.

Eine untergegangene Welt

Kaouther Adimi führt uns mit ihrem Roman in eine untergegangene Welt: Heute regieren amazon, Bestsellerlisten, ebooks und Großbuchhandlungen. Alles muss schnell, schrill, gehipt, gelikt sein. Da gibt es keine Visionen mehr, keine Phantasie, keinen Charme. Es ist der Autorin zu danken, dass sie uns diesen kreativen, obsessiven Menschen liebevoll vorstellt. Und dass sie uns an seinen Ideen, an seinem Erfolg und auch an seinen Problemen teilhaben lässt. Charlot starb verarmt. Und ohne ihre Hommage an Charlot, an „Les Vrais Richesses“ und auch an Algier wären wir als Leser ein Stückchen ärmer.

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