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Hast du dem Tod schon mal ins Auge geblickt?

Seine Augen füllten sich mit Tränen, sein Gesicht war erfüllt von Schmerz und seine Stimme klang belegt, als der 25jährige Sipan anfing, über die Details seiner Flucht aus Syrien zu erzählen. Jeder Flüchtling hat eine eigene Geschichte und das Ausmaß des Schmerzes ist immer unterschiedlich. Sipan hat eine sehr schlimme Flucht erlebt. Wie die meisten Flüchtlinge kam auch Sipan über die Türkei nach Deutschland. Die größte Gefahr bei dieser Route ist das Meer, aber Sipan hat vorher schon große Gefahren überstanden.

 Er kommt aus der syrischen Stadt Qamishli im Nordosten Syriens. Die Erfahrungen, die er an der syrisch-türkischen Grenze zusammen mit einer Gruppe von syrischen Flüchtlingen machen musste, waren noch härter als seine Erlebnisse bei der Überquerung des Meeres. Weil die Gruppe nicht die Möglichkeit hatte, legal in die Türkei einzureisen, bezahlten sie illegale Schleuser, die sie über die Grenze bringen sollten. Der illegale Weg über die Grenze in die Türkei führt über einen schneebedeckten Berg. Auf dem Weg dorthin mussten die Flüchtenden auf einem Pferd einen reißenden Fluss überqueren.

Es gibt nichts schrecklicheres, als wenn ein Baby vor den Augen seiner Mutter stirbt

Bei der Überquerung des Flusses durften die Flüchtlinge nicht anhalten, da sie sonst von dem starken Strom mitgerissen würden. Eine der schrecklichsten Situationen war der Moment, als einer Mutter ihr nicht mal einjähriges Baby herunter rutschte. Sie musste mit ansehen, wie ihr Kind  von dem Fluss mitgerissen wurde. Sie konnte ihm nicht helfen. Die Mutter des Kindes war so verzweifelt, dass sie ihre Kleidung zerriss. Sie wollte ihr Kind retten und versuchte, nochmal zurück in den Fluss zu gehen, aber der Strom des Flusses war so reißend, dass sie aufgeben musste und ihrem Kind nur weinend hinterher sehen konnte.

„Wir konnten ihr nicht helfen und die Schmuggler drängten uns, schnell weiter zu gehen“, berichtet Sipan.  „Deshalb weiß ich nicht, was mit ihnen geschehen ist. Aber dieses schreckliche Ereignis hat sich tief in mein Gedächtnis gegraben und ich werde die Verzweiflung der Mutter und unsere Hilflosigkeit mein ganzes Leben lang nicht vergessen“

Verletzungen der Menschenrechte durch die türkischen Grenzposten

Nach dem reißenden Fluss lag vor den Flüchtenden das nächste Hindernis: 
eine Bergketten, die sie teils zu Fuß, teils in einem  „Pick-Up“ überqueren mussten. In den Bergen kamen sie dann plötzlich in einen Hinterhalt. Sipan berichtet: „Wir mussten uns sofort auf den Boden legen und all unsere Dinge abgeben. Wir haben sehr gefroren, weil wir unsere Kleidung ausziehen mussten, damit sie uns kontrollieren konnten. Sie nahmen unser ganzes Geld und unsere Handys und brachten uns in große Hallen, in denen wir drei Monate ohne Heizung im Winter verbringen mussten. Es war alles voller Schnee und sehr kalt. Wir standen zwei Stunden ohne Kleidung vor den Soldaten bis wir in die Halle gebracht wurden. Wir bekamen nur wenig zu essen, gerade so viel um überleben zu können. Außerdem wurden wir von den Soldaten gedemütigt und geschlagen. Es gab eigentlich keinen Grund weiterleben zu wollen.“

Nach drei Monaten wurden sie vor die Entscheidung gestellt: Entweder mussten sie jemanden in der Türkei finden, der sie aufnimmt oder aber sie mussten zurück nach Syrien. Sipan hatte das Glück, einen Verwandten in der Türkei zu haben. Für 350 US $ konnte er die Halle verlassen und nach Izmir in die Türkei reisen. 

Todesangst und unbeschreibliches Glück bei der Fahrt übers Meer

Als sie um kurz nach Mitternacht in Izmir ankamen, wurden Sipan und die anderen Flüchtlinge von bewaffnete Schmugglern erwartet. Von da an hatten sie keine Wahl mehr. Um 4 Uhr morgens mussten sie in ein Schlauchboot steigen. Einerseits wussten sie, dass das Gummiboot unsicher und das Risiko groß war, die Fahrt nicht zu überleben. Andererseits war ihnen auch klar, dass sie nicht zurück konnten. Entweder die Schmuggler würden sie umbringen oder spätestens in Syrien würden sie im Krieg sterben.

Sipan berichtet: „Das Boot hatte eigentlich Platz für 30 Personen, aber wir mussten mit 56 Personen einsteigen. Es waren Kinder, ihre Mütter und auch alte Menschen auf dem Boot. Ein alter Mann auf dem Boot schrie, dass er sterben wolle und, dass er dann wenigstens nicht alleine, sondern mit allen aus dem Boot zusammen sterben würde. Mitten auf See zwischen der Türkei und Griechenland fiel auf einmal der Motor aus. Die Wellen waren riesig und warfen unser kleines Schlauchboot fast um. Alle waren in Panik. Einer unserer Mitfahrer versuchte immer weiter den Motor wieder zu starten und schaffte es zum Glück auch irgendwann, sodass wir heil in Griechenland ankamen. Ich kann nicht beschreiben, wie sehr ich mich gefreut habe, als wir sicher auf der griechischen Insel landeten. Ich fühlte mich wie neu geboren, als hätte Gott mir ein anderes Leben gegeben. Die Kinder schrien und ihre Mütter weinten vor Freude … meine Gefühle sind unbeschreiblich.“

Kein Ende der Gefahren: über Mazedonien und Serbien nach Deutschland

Sipan dachte, dass nun der schwierigste Teil der Wanderung nach Europa hinter ihnen lag. Aber der Weg von Griechenland nach Deutschland wurde nicht leichter: Als Sipan und die anderen Flüchtlinge mit dem Boot auf der griechischen Insel Matellini ankamen, empfing sie die Küstenwache und brachte sie nach Athen. Von Athen aus wurden sie mit Bussen an die Grenze zu Mazedonien transportiert. Ihnen war nicht klar, wann die Grenze geöffnet sein würde. Sie schliefen entweder auf der Straße oder in einem großen Zelt mit vielen anderen Menschen. Es war sehr kalt und sie hatten keine Möglichkeit sich zu waschen. Nach drei Tagen wurde die griechische Grenze geöffnet und sie durften nach Mazedonien einreisen.

An der Grenze zwischen Mazedonien und Serbien sahen sie viele Diebe, die die Menschen anhielten und ihnen Zigaretten verkaufen wollten. Sie hatten Messer dabei und drohten denen, die nichts von ihnen kaufen wollten. Sipan erzählt: „Wir hatten Glück, dass wir in einer großen Gruppe unterwegs waren. Deshalb hielten die Diebe uns nicht an. Wir erreichten Österreich und schließlich kamen wir nach Deutschland“.

Erste Erfahrungen nach der Ankunft in Deutschland

Sipan hatte sich entschieden, nach Deutschland zu fliehen, weil Deutschland eine gute Wirtschaft und deswegen auch viele Arbeitsplätze hat.

Er erzählt: „Ich hatte vor meiner Flucht Kontakt zu Freunden in Deutschland, die mir sagten, dass Deutschland das beste EU Land sei. Außerdem werden in Deutschland die Menschenrechte geachtet und die Menschen sind sehr freundlich.“

Die Herberge, in der Sipan und die anderen Flüchtlinge in den ersten sechs Monaten in Deutschland untergebracht wurden, war sehr schlecht. Sie mussten lange auf ihre Aufenthaltsgenehmigung warten und es gab viel Bürokratie zu erledigen. Aber die Menschen in der Herberge, die für Sipan zuständig waren, waren alle sehr hilfsbereit. Es gab allerdings auch einige Menschen, besonders die, die schon früher aus den arabischen Ländern nach Deutschland gekommen waren und seine Sprache sprachen, die sehr unhöflich zu ihm waren.

Sipan zu seinen ersten Eindrücken und Erfahrungen Deutschland: „Es wird sich hier um alles gesorgt. Die Kinderbetreuung und das Gesundheitssystem in Deutschland sind sehr gut.“ Und mit einem Lächeln im Gesicht erzählt er weiter: „Es ist sehr lustig, wenn ich versuche Deutsch zu sprechen. Dann fühlt sich meine Zunge an, als wäre sie zehn Kilo schwerer. Als ich versucht habe, Deutsch zu sprechen, haben alle Deutschen um mich herum gelacht, weil ich so schlechtes Deutsch gesprochen habe. Aber es ist wichtig, dass wir versuchen Deutsch zu sprechen.“

Was Sipan den Menschen in Deutschland sagen will

Sipan kennt die Vorurteile, die manche Menschen gegen Flüchtlinge haben. Den Menschen in Deutschland möchte Sipan deshalb sagen: „Wenn wir in Sicherheit in Syrien leben könnten, würden wir nicht hierher kommen. Einige Deutsche sagen, dass wir Flüchtlinge nur kommen, um zu essen und zu schlafen. Aber das ist eine sehr falsche Vorstellung, weil die meisten Flüchtlinge, so wie ich, eigentlich eine sehr gute Ausbildung in Syrien gemacht haben und auch gerne arbeiten würden. Viele Flüchtlinge möchte, wie alle, Steuern zahlen und ihr Geld mit Deutschland teilen. Dafür aber brauchen sie erstmal eine Aufenthaltsgenehmigung.“ 

Der Schmerz der Trennung von der Familie – und eine Hoffnung

Jedes Mal, wenn Sipan von seinen Eltern nach seiner Lebenssituation in Deutschland gefragt wurde, hat Sipan ihnen gesagt, dass alles ausgezeichnet sei. Er wollte ihnen keinen Kummer bereiten. Die Realität sah anders aus: „Ich verlor 13 kg, weil ich mir Sorgen machte und nur schlechte Nahrung hatte und jeden Tag an meine Familie denken musste, die in Syrien zurück bleiben musste.“ 

Sipan hat den Flüchtlingen geholfen, die nach Syrien kamen und jetzt braucht er selber Hilfe. In seiner Heimat hatte er genug Geld. Für ihn ist es sehr schwierig, sich in der Herberge wie ein Bettler in die Reihe zu stellen und auf sein Essen zu warten. Er erzählt: „Besonders schwierig ist es für mich auch, zum Sozialamt zu gehen und um finanzielle Hilfe zu bitten. Meine Situation ist so viel schlechter im Vergleich zu der vor dem Krieg in Syrien. Ich weine jeden Tag. Alles macht mich traurig. Vor allem, wenn ich an meine Situation vor dem Krieg in Syrien denke.“ Was er seiner Mutter am liebsten sagen möchte: „Ich vermisse dich so so so sehr, Mama. Ich wünsche mir ein langes Leben, um dir alles wieder geben zu können, was du mir gegeben hast und, um dich glücklich zu machen.“

Sipans Wünsche für sein Leben sind sehr einfach: „Ich würde mir ein sicheres Haus mit meiner Familie wünschen. Perfekt wäre es, wenn ich meinen Master in Computer-Programmierung abschließen und Deutschland alles zurückgeben könnte, was mir gegeben wurde.“

Diese Interview wurde mit  Leona Bergmann geschrieben.

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Autorengruppe
Ahmad ist Journalist aus Syrien und arbeitet bei Radio Gütersloh.

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Eine Antwort

  1. Lieber Sipan,
    Du hast es verdient, dass du in Deutschland dein Glück findest. Ich wünsche dir, dass alle deine Träume wahr werden. Auch von es schwierig ist, gebe nicht auf. Du bist so weit gekommen. Du schaffst auch den Rest.
    Liebe Grüße
    Andrea

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