Wie sind Sie zum Thema Integration gekommen?
Ich habe erstmal bei mir selbst angefangen. Als gebürtige Ostdeutsche musste ich mich zunächst in die westdeutsche Mentalität hineindenken. Zudem habe bin ich mit einem Inder verheiratet und weiss daher aus erster Hand, wie man in einer fremden Gesellschaft ankommen kann: mit Verständnis, klaren Regeln und Toleranz. An der aktuellen Situation ärgert mich, dass Flüchtlinge in eine Situation der Hilflosigkeit gebracht werden.
Wie meinen Sie das mit der Hilflosigkeit?
Die Flüchtlinge werden systematisch zur Unmündigkeit erzogen. Nach der Ankunft warten sie zunächst auf den Bescheid des Asylantrages. Bis dahin sind ihnen die Hände gebunden. Arbeit, eigene Rückzugsräume oder Bildung werden ihnen lange vorenthalten. Wird der Asylantrag angenommen und sie dürfen in Deutschland bleiben, soll es baldigst in die eigene Wohnung, in den Arbeitsmarkt und ins Vereinsleben gehen. Viele Integrationshelfer und Willkommenslotsen beschweren sich über die hohe Dienstleistungserwartung der Flüchtlinge. Diese Bittstellhaltung ist leider ein hausgemachtes Problem.
Was meinen Sie mit „hausgemachtem Problem“?
Aus meiner Sicht funktioniert Integration nur auf Augenhöhe. Den Flüchtlingen wurde zunächst vieles gegeben ohne zu fordern. Ob Begleitung zu Behördengängen, Verteilung von Kleidung oder das Verschenken von Süßigkeiten an kleine Kinder – man sollte sich dabei erstmal die Frage stellen, ob man auch so mit seiner eigenen Familie umgehen würde. Immerhin ist zu viel Süßes schlecht für die Zähne und wer geht dann mit den Kindern zum Zahnarzt? Mein Eindruck ist, dass einige Wohltaten vor allem das eigene Gewissen besänftigen sollen und eine nachhaltige Integration leider verfehlt wird. In einer Hauruck-Aktion wird gern geholfen und im Gegenzug erwartet man glückliche Gesichter auf einem Beweisfoto. Da vergisst man, dass Flüchtlinge auch Menschen sind. Leider haben wir den Umgang mit ihnen immer noch nicht drauf.
Wie sollte der Umgang mit den Flüchtlingen aussehen?
Flüchtlinge sind nur Menschen – genau wie Sie und ich. Es gibt hilfsbedürftige und selbständige, böse und gute sowie atheistische und fromme Flüchtlinge. Zudem ist der Rassismus unter ihnen manchmal sehr hoch und auch sie tragen schwere Koffer mit sich: Verkorkste Beziehungen, Ängste und Wünsche. Der große Unterschied zu den Einheimischen besteht darin, dass sie ihre Lebenserfahrungen in einem uns fremden System gemacht haben. Und das ist der Punkt, über den wir viel mehr diskutieren sollten: Wie gehen wir mit anderen Gesellschaftsnormen und Erfahrungen um? Zuerst sollten wir unsere eigene Sichtweise hinterfragen und ihnen wie jedem anderen Menschen begegnen – und zwar auf Augenhöhe! Zu einem friedlichen Zusammenleben gehört die Kommunikation nachvollziehbarer und klarer Regeln. Äußerst wichtig ist auch: Wir sollten nicht nur schenken, sondern auch fordern.
Was sollten wir fordern?
Wenn wir Hilfe geben, dürfen wir auch Forderungen stellen. Helfen wir beispielsweise unseren Freunden, brauchen wir vollständige Informationen darüber, wie wir helfen können. Weiter müssen wir uns darauf verlassen, dass derjenige, dem wir helfen, auch aktiv mitmacht bei der Lösungsfindung. Und genau diese Aktivität und Verbindlichkeit müssen wir auch von den Flüchtlingen verlangen. Klar ist es anfangs schwer für sie, in einem fremden System zurechtzukommen. Aber nur so können sie sich weiterentwickeln und man verhilft ihnen zur Mündigkeit. Das setzt Geduld und die Bereitschaft voraus, über den Sinn einer Sache aufzuklären. Neben der Erklärung, wie Müll getrennt wird, sollte vor allem erläutert werden, warum Müll getrennt wird.
Wieso sollten wir uns selbst hinterfragen?
Durch mein privates Umfeld habe ich lernen müssen, mich selbst und die deutsche Gesellschaftsnorm zu überprüfen. So ist Arbeit auch ohne Ausbildung möglich, das Kastensystem hat seine Vor- und Nachteile und mein Frauenbild hat sich geändert. Ist unser Bild von Gleichberechtigung wirklich die beste Lösung? Die Altersarmut macht sich in Deutschland vor allem bei den Frauen bemerkbar und das Muttersein wird belächelt. Ist dies Gleichberechtigung? In anderen Gesellschaften wird die Frau für das Aufziehen der Kinder honoriert. Wer sind wir, dass wir unsere Gesellschaftsnormen anderen Weltbildern überordnen? Ich finde, wir sollten nicht vergessen, dass Deutschland nicht immer so groß war, und ich wünsche mir mehr Respekt anderen Kulturen gegenüber.
Was wollen Sie mit dem Verein Herzliches Lokstedt e.V. erreichen?
Bereits vor der Flüchtlingswelle war ich regelmäßig in der Unterkunft Lokstedter Höhe und habe Aktivitäten angeboten. Mit der Zeit habe ich die Notwendigkeit einer Begegnungsstätte gesehen. Immerhin brauchen Menschen auch Raum für sich, und Integration ist nur dann möglich, wenn man sich draußen in der Freizeit begegnet. Wir würden selbst auch keine Menschen zu uns nach Hause einladen und erwarten, dass Integration einfach so funktioniert. Sinn der Begegnungsstätte ist, dass sich Einheimische, Migranten und Flüchtlinge auf Augenhöhe begegnen. Zusammen wird gekocht, Sport gemacht, Erfahrung ausgetauscht und Zeit miteinander verbracht. Hier grenzen wir uns zu den Tätigkeiten eines Sozialarbeiters ab. Der Verein dient als Anlaufstelle, als Hilfe zur Selbsthilfe und wir erwarten eine Fluktuation, sofern die Menschen alleine zurechtkommen.
Sie haben sehr viel Erfahrung in der Integrationsarbeit. Was ist Ihr Fazit?
Ganz ehrlich: Ich bin desillusioniert vom Staat und der deutschen Gesellschaft. Die Deutschen brüsten sich damit, sie seien humanitär. Allerdings sprechen die hohe bürokratische Willkür und ein fehlendes Integrationskonzept eine andere Sprache: Integration ist nicht gewollt. Wie kann man massenweise dazu aufrufen, den Flüchtlingen bei der Erstellung ihres Lebenslaufes zu helfen, während die Anerkennung wichtiger Dokumente – welche für die Bewerbung benötigt werden – derart schwierig ist?! Betritt man das System der deutschen Bürokratie, kommt man sich wie in einem Irrenhaus vor. In meiner Arbeit mit Flüchtlingen habe ich oft gegen Windmühlen kämpfen müssen. Dank unserer Förderer, wie die Bürgerstiftung Hamburg, kann der Verein seine Arbeit mit etwas weniger Sorgen und mehr Optimismus fortsetzen. Ich bin sehr froh, dass ich die Integration mitgestalten kann und beziehe gern meine Familie ein. So gibt mein kleiner Sohn auch schon Deutschunterricht.