Kugelhagel statt Zeitungsheadlines zum Frühstück
Dieser Tag fing nicht so gut an für Antonio. Nicht nur, dass er verschlafen hatte, und deshalb auf das Frühstück verzichten musste – die Meckereien seiner Frau Linda trieben ihn allerdings schneller aus dem Haus, als er es ohne sie geschafft hätte. Nein, jetzt mussten er und viele andere schwarze Bewohner der Favela Rocinhan auf die Möglichkeit warten, die enge Straßen in Richtung Asphalt überhaupt hinunter zu gelangen. Dort wiederum mussten sie den regelmäßig überfüllten und überhitzten Bus zur Arbeit erreichen.
Der Krieg unter den zwei mächtigsten Drogenfraktionen von Rio dauerte jetzt schon fast drei lange Wochen an. Und an diesem Morgen flogen die Kugeln schon recht früh durch die Luft. Das war etwas Neues. Die Schlachten wurden sonst meistens in der Nacht ausgefochten. Morgens kamen die Polizisten von irgendeiner Sondereinheit, um die Toten zu bergen und einige kleinere Fische festzunehmen. Das nannten sie Befriedungspolitik – ein schlechter Witz, wenn man mit ansah, dass immer mehr junge Männer starben. Durch die Kugeln der Gegner oder die der offiziellen Waffen des Staates.
Die Sünde der Geburt auf Brasilianisch
Es wäre auch denkbar, dass am Ende der Hauptstraße, nahe der Haltestelle, die meist weißen Polizisten die Bewohner einzeln durchfilzen würden. Diese wurden stets verdächtig, in irgendeiner Weise mit den Soldaten des Drogenhandels Geschäfte zu machen. Das war klar: Sie waren fast alle schwarz, und die Farbe alleine machte sie schon von Geburt an zu potentiellen Kriminellen.
„Hörst du, es wird ruhiger“, sagte ein wartender Nachbar zu Antonio. „Es wäre schön, wenn ich heute nicht so spät zu Arbeit komme. Du weißt ja, den Chef interessiert nicht, was hier los ist“. „Warum sollte er sich für unser Leben interessieren?“, fragte Antonio. „Er braucht uns für die Maloche und das war’s. Ich kann noch dankbar sein, dass ich den Job habe“. „Du hast Recht, wie viele von uns sind arbeitslos? Auch die Jungen!“, sagte der Nachbar. „Und das treibt sie immer mehr in die Händen der Dealer“. Antonio dachte einen Augenblick still nach. „Und so helfen sich die Schwarzen untereinander!“, sagte er mit ironischem Unterton und lächelte gequält.
„Wie lange noch wollen wir das ertragen?“
Es waren jetzt nur noch sporadische Schüsse zu hören. „Wir können gleich weiter …“, mutmaßte Antonio. „Wie lange noch wollen wir das ertragen?“, stieß der Nachbar mit verärgertem Ausdruck hervor. „Was meinst du?“, fragte Antonio. „Siehst du es nicht? Es war schon immer so mit uns Schwarzen“, erwiderte der Nachbar, „auch mit unseren Eltern und Großeltern. Seit eh und je sind wir nur die Diener der Weißen. Oder hast du schon einen Schwarzen kennengelernt, der in einem Penthouse in Ipanema wohnt? Ich noch nie!“ Der Nachbar sah jetzt richtig wütend aus. „Lass und gehen, es ist ruhig jetzt.“, sagte Antonio, ohne auf die Frage einzugehen.
Sie machten sich, zusammen mit vielen anderen, auf den Weg hinunter zur Haupteinfahrt von Rocinha. Aus der Ferne waren schon Polizisten zu sehen, die Bewohner durchsuchten. „Scheiße, es geht schon wieder los!“, fluchte Antonio. „Das war mir klar, ich komme schon wieder viel zu spät!“, schimpfte der Nachbar. Antonio schwieg. „Wir haben noch Glück“, fuhr der Nachbar fort, „bei meiner Schwester in Acari ist noch viel schlimmer! Da werden die Bewohner auch von den weißen Milizen drangsaliert, sei es beim Kauf der Gasflaschen oder beim Transport von der Haltestelle nach Hause. Auch unter den Kriminellen haben die Weißen die Macht!“
Aufbegehren als Mensch für Menschen
„Ich glaube, es war schon immer so.“, meinte Antonio, als die beiden schon kurz vor der Kontrollstelle standen. „Nein, es war nicht immer so. Es ist nur immer wieder so gewesen, weil wir uns nie zusammengeschlossen haben. Es sind nur ein paar von uns, die sich engagieren!“, regte sich der Nachbar auf. Sie reihten sich in die lange schwarze Schlange vor den Polizisten ein. Antonio wandte sich seinem Nachbar zu: „Du hast ja gesehen, was mit Maria José passiert ist, erschossen in Sichtweite des Rathauses, und was hat der ganze Kampf gebracht?“
„Sehr viel, die Frauen und jungen Leute lassen sich jetzt nicht mehr alles gefallen!“, brüllte jetzt schon fast der Nachbar. So laut, dass er die Aufmerksamkeit eines Polizisten auf sich zog. „Ist da was?“, fragte der der bullige Mann mit ernster Miene. „Alles ist gut“, beschwichtigte Antonio, „wir wollen nur nicht zu spät zur Arbeit kommen“. „Ein Scheiß ist gut“, schrie der Nachbar, „wir haben es satt, von euch und anderen schikaniert zu werden, und das nur weil wir schwarz und arm sind!“ Antonio schaute alarmiert zum Nachbarn und raunte ihm zu: „Willst du uns noch in Schwierigkeiten bringen? Ist unser Leben nicht schon schwer genug?“
Rassismus hat nie aufgehört …
„Willst du sagen, dass wir Rassisten sind?“, spuckte der Beamte seine Worte laut hervor und kam den beiden näher. „Er ist nur nervös wegen der Arbeit!“, versuchte Antonio ihn zu beruhigend. „Nervös? Ich bin wütend! Ja, mehr als das, weil der Rassismus in Brasilien nie aufgehört hat. Und dann sollen auch noch für die Almosen der Weißen dankbar sein!“, erregte sich der Nachbar. „Du solltest in die Politik gehen man, so wie du redest“, spottete der Polizist, „und zeig mal deine Tasche her!“ Doch der Nachbar gab nicht nach: „Warum sollte ich das? Ich bin nur ein einfacher Arbeiter und kein Gangster! Das wäre eure Arbeit, uns vor den Kriminellen zu schützen, damit wir in Ruhe leben können! Aber was macht ihr? Ihr wartet, bis die Gefahr vorbei ist, um uns zu verfolgen“. Antonio seufzte: „Zeig ihm deine Tasche, damit wir weg kommen, man!“
„Ja, ich werde das machen, sonst verlieren wir noch unsere Arbeit“, lenkte der Nachbar grimmig ein und schaute dabei dem Polizisten fest in die Augen, „aber dieser Zustand wird nicht ewig dauern, hörst du? Einige von euch sind auch schwarz, aber hast du schon einen schwarzen Kommandanten gesehen?“ Der Polizist fuhr ihn barsch an:„ Halt die endlich Fresse, man, und dreh dich um!“ Der Nachbar begehrte erneut auf und rief laut: „Nein, das tue ich nicht, was hast du mir vorzuwerfen? Das ich in einer Scheißfavela leben muss? Lass mich jetzt durch! Ich muss zur Arbeit!“
Der Kampf gegen die Ungerechtigkeit
Ein paar andere Polizisten eilten herbei, einer unter ihnen brüllte: „Lass uns ihn gleich mitnehmen, der hat mit Sicherheit was zu erzählen“. Das hätte er lieber nicht tun sollen. Die wartenden Männer und Frauen hatten die Auseinandersetzung längst mitverfolgt und fingen nun lauthals an, zu protestieren: „Lass uns einfach durch!“, „Was hat er denn gemacht?“, „Warum schützt ihr uns nicht?“, „Wir sind keine Kriminellen!“. Es entstand ein undurchsichtiges Gerangel. Die Beamten versuchten, die Meute zurück zu drängen, doch das Geschrei wurde nur noch lauter. Der erste Schlag eines Polizisten ins Gesicht eines Mannes wurde zum Auslöser einer wilden Prügelei.
Antonio boxte sich durch den Wall von Menschen. Er wollte nur noch raus, den Bus erwischen und seine Gedanken ordnen. Warum hat er nie etwas gegen die Ungerechtigkeit gemacht? Es gab doch Initiativen, Bewegungen. Er prügelte sich einen Weg durch die Menge und sah plötzlich in die Augen seiner Frau Linda. Sie schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Was ist mit dir los Antonio? Mit wem prügelst du dich? Hattest du einen Albtraum?“
„Ich muss für uns alle noch etwas tun!“
Antonio rieb sich die Augen und richtete sich im Bett auf: „Wie spät ist es? Warum hat der Wecker nicht geklingelt?“ Linda schaute auf den Wecker: „Wir haben noch ein bisschen Zeit. Leg dich wieder hin, ich bin müde.“ Antonio stand blitzartig auf und schaute mit ernstem Blick auf seine Frau. „Schatz, was hast du denn? Komm doch ins Bett!“ Doch Antonio erwiderte: „Ich muss jetzt los, Linda. Ich habe was zu erledigen.“ Er sammelte seine Klamotten und zog sich hastig an. „Ich muss für uns alle noch was tun!“
Das war das Letzte was sie von ihm hörte an diesem Morgen, bevor Antonio die Haustür energisch hinter sich schloss.