Ich war wieder einmal entsetzt, welche Meinung herrscht und wie viele Vorurteile sich in den Köpfen festgesetzt haben. Das ging von „Die machen alles kaputt!“ und „Die gehen nicht arbeiten und leben von unseren Steuergeldern!“ bis hin zu „Die nehmen unseren Deutschen Arbeit und Wohnungen weg!“ Auch wurde sich darüber aufgeregt, dass „die“ keine Gardinen vor den Fenstern hätten. Geld hätten „die“ doch genug, da sie ja Wohnung, Lebensunterhalt und sogar Fahrkarten für Bus und Bahn vom deutschen Staat finanziert bekämen und stets das teuerste Handy dabei hätten.
Erfahrungen weitergeben statt Vorurteile verbreiten
Ich habe erstmal klargestellt, dass Flüchtlinge lediglich die gleichen Leistungen wie jeder andere SGB II-Empfänger erhalten, keinesfalls aber kostenlose Tickets für Bus und Bahn, und dass das Handy die oftmals einzige Verbindung zur Familie in der Heimat ist. Und dann habe ich ein bisschen über meine beiden syrischen Brüder erzählt. Seit 19 Monaten verbindet mich mit ihnen eine Patenschaft.
Ich habe berichtet, wie lange sie auf ihre Integrationskurse warten mussten und bis dahin ehrenamtlich organisierte Deutschkurse besuchen konnten. Es war alles andere als einfach, eine Wohnung für die zwei zu finden. Da beendete manch potentieller Vermieter einfach wortlos das Telefonat, wenn ich erwähnte, dass zwei Männer aus Syrien die Wohnung mieten wollten. Und es gab soviel Neues und Fremdes für die zwei. Was ist eine Sozialversicherungsnummer? Wie funktioniert Müll-Trennung? Wie und wo melde ich Strom an? Und was ist eigentlich GEZ?
Erzählt habe ich auch davon, wie sehr sie unter der Trennung von Familie und Heimat leiden. Dazu kommen ihre permanente Angst und ihre vielen Sorgen um Familie und Freunde in Syrien.
Aus Erfahrung weiß ich, dass ich mit diesen Worten nicht viel erreiche. Manchmal schaut dann jemand betreten und gibt zu „Naja, die sind ja nicht alle schlecht. Und wenn man so was hört, dann tut mir das auch leid!“
Was zählt hier noch Barmherzigkeit?
Manchmal wird erkannt, dass mit dem Begriff „Flüchtling“ schnell verallgemeinert wird. Es ist so einfach, alle über einen Kamm zu scheren und nicht zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen zu unterscheiden. Irgendwelche Vorurteile lassen sich auf diese Weise mühelos verbreiten. Gern verweise ich dann auch auf das deutsche Grundgesetz.
Ich gehöre keiner kirchlichen Gemeinde an. Aber in der Vorweihnachtszeit ist mir die biblische Weihnachtsgeschichte wieder in den Sinn gekommen: Sie – Maria und Josef – wurden allerorten zurückgewiesen. Letztendlich fanden sie im Stall eines barmherzigen Mannes Unterschlupf. Denken die christlich geprägten Europäer noch daran? Was zählt hier noch Barmherzigkeit?
Meistens ist das Thema nach solchen Fragen beendet. Meiner Meinung nach sind Geburtstagspartys ohnehin kein guter Ort, um darüber zu diskutieren. Aber das Gehetze und Gejammer hört damit nicht auf. Es scheint immer mehr zu werden. Natürlich ist mir klar, dass ich nicht jeden überzeugen kann. Auch nicht unter Menschen, bei denen einige früher selbst aus dem heutigen Polen (Schlesien, Pommern, Ostpreußen) geflüchtet sind.
Kontakte können eine große Bereicherung sein
Einen Tag später rief mich die Cousine meines Vaters an. Sie ist auch ungefähr 70 Jahre alt und sagte: „Ich sehe jeden Tag eine Frau aus Afghanistan an der Bushaltestelle. Sie schaut immer auf die An- und Abfahrtzeiten und sagt dann, ich muss besser Deutsch lernen. Vielleicht braucht die Frau Hilfe. Ich werde das nächste Mal, wenn ich sie sehe, einfach mal „Hallo!“ zu ihr sagen und fragen, wie es ihr geht.“
Wir sollten nie aufhören, den deutschen Leuten zu erklären, dass ihre Angst unbegründet ist und der Kontakt zu unseren Neubürgern eine große Bereicherung sein kann – wie ich aus eigener Erfahrung weiß.
Nein, es war auch nicht immer einfach. Ich kenne auch einige Leute, die sich um afghanische, jemenitische, irakische oder syrische Flüchtlinge gekümmert haben und sehr enttäuscht wurden. Manchmal passt es einfach nicht. Es kann sein, dass die Neubürger keine Hilfe möchten. Manchmal sind die Flüchtlingshelfer zu übergriffig und wollen ihren Schützlingen sagen, wie sie zu leben haben. Die beiden syrischen Brüder und ich haben auch eine ganze Weile gebraucht, um uns gut kennen zu lernen, uns zu verstehen, vor allem aber das Anderssein zu akzeptieren. Mehr als einmal hätte ich diese Patenschaft gern beendet, weil ich wütend und enttäuscht war oder mich unverstanden fühlte. Aber ich denke: Wie würde es mir wohl gehen, wenn ich in ein fremdes Land flüchten müsste? Wenn ich die Sprache nicht verstehe und eine ganz andere Kultur habe? Wenn mich das Heimweh nach den schrecklichen Erlebnissen im Heimatland, und nach der gefährlichen und anstrengenden Flucht so sehr quält, das es mich fast krank macht ?