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Eine Bewegung des Herzens – Menschen erzählen, Teil 2

Ein "sorgendes Herz", das sich nach vorn wendet, wird den Unterschied in unserem Leben ausmachen - mit diesen Worten beschließt Franka-Maria Andoh aus Ghana ihre Gedanken zum Thema "Barmherzigkeit". Und auch durch andere Stimmen aus anderen Ländern wird deutlich: Barmherzigkeit bewegt uns weltweit - ganz besonders in diesem Jahr.

Barmherzigkeit – was bedeutet das für das Leben von Menschen in unterschiedlichen Teilen der Welt? Für eine zweiteilige Weihnachts-Reportage hier im kohero Magazin sind wir dieser Frage nachgegangen. Mit weiteren Stimmen aus verschiedenen Ländern wird in dieser Ausgabe der gestern begonnene Beitrag fortgesetzt.

So unterschiedlich die hier gesammelten Erfahrungsberichte auch sein mögen – deutlich wird dabei immer wieder, wie Barmherzigkeit zu spürbaren und wirksamen Veränderungen führt. Denn es geht dabei nicht nur um fromme Wünsche oder gute Gefühle. Ganz konkret fordert Barmherzigkeit zum Handeln und Helfen heraus. Sie sensibilisiert die Sinne für die Bedürfnisse von Körper und Seele und macht einen Unterschied inmitten von lebensfeindlichen und zerstörerischen Einflüssen und Bedrohungen.

 Unterdrückung und Terror sind unbarmherzig

Bei Tee und Kerzenschein habe ich mich mit Sajad Allah Dad im Advent dazu ausgetauscht. Seine Kindheit hat er in Afghanistan verbracht. Es folgten viele Jahre im Iran. Schließlich die Flucht. Seit 2011 lebt er nun in Deutschland.

Barmherzigkeit, so seine Überzeugung im Rückblick auf mehr als 40 Lebensjahre, ist unverzichtbar für unser Zusammenleben. Gerade in schwierigen Situationen hat er im Miteinander von Menschen immer wieder erlebt, was es heißt, Not zu teilen, Hilfe anzunehmen und andere zu unterstützen: in Afghanistan und im Iran, auf der Flucht und schließlich in Deutschland. Es sind vor allem die persönlichen, oft überraschenden Begegnungen, die ihm da einfallen. Und die sich selbst in der größten Bedrängnis unvermutet ereignen können. Zugleich kennt er aber auch die andere Seite. Wo Unterdrückung und Terror, Egoismus und Machtgier die Oberhand gewinnen, wo Religion durch Gewalt entstellt und missbraucht wird – da zeigt das Leben seine grausamen und unbarmherzigen Seiten. Dennoch, so glaubt Sajad, bleibt Barmherzigkeit immer und überall eine Möglichkeit, die Gutes bewirkt und Veränderungen anstoßen kann – von Mensch zu Mensch.

Barmherzigkeit ist eine Bewegung des Herzens

Für Gino Victor Ruoso ist Barmherzigkeit ebenfalls eine elementare und unverzichtbare Erfahrung – aktuell ganz besonders vor dem Hintergrund der Corona-Krise. Er ist in Deutschland geboren, lebt aber schon seit seiner Kindheit in Italien. Unter dem Eindruck der Ereignisse dieses Jahres ist ihm Barmherzigkeit umso intensiver als Wert, Sinn und Sehnsucht bewusst geworden. Er berichtet:

Ich bin fest davon überzeugt, dass Barmherzigkeit das wichtigste Wort der Welt ist: Alle wichtigen religiösen Kulturen des Planeten haben es aufgenommen und laden dazu ein, es zu praktizieren. Barmherzigkeit ist eine Bewegung des Herzens. Es ist ein Weitwerden der Seele, um den anderen mit seiner Verletzlichkeit willkommen zu heißen.

Gerade dieses Jahr hat es sich mehr denn je als notwendig erwiesen, sich dem täglichen Leiden zu nähern, das durch die Pandemie verursacht wird: wie viele Tränen, wie viele vorzeitige Todesfälle, wie viel Schmerz nach dem Tod für diejenigen, die gesehen haben, wie ihre Lieben weggenommen wurden, ohne sie überhaupt verabschieden zu können.

Ohne Barmherzigkeit würde ich mich leer fühlen

Ich weiß nicht, ob ich es in diesen harten Monaten genug geübt habe, aber ich weiß, dass nur Barmherzigkeit mir geholfen hat, mein Urteilsvermögen nicht zu verhärten, Meinungen beiseite zu legen und zumindest ein wenig in Wissenschaft und Politik zu vertrauen. Damit immer weniger Menschen der Gefahr ausgesetzt sind, krank zu werden.

Ich habe in diesen Monaten viele verschiedene Gefühle erlebt. Aber nur Barmherzigkeit möchte ich bewahren. Angst, Wut, Zweifel können ohne wirklichen Verlust verschwinden. Aber ohne Barmherzigkeit würde ich mich leer fühlen. Ich weinte mit meiner Familie über herzzerreißende Szenen, die wir gesehen haben. Und trauerte um Menschen, die gegangen sind. Ich habe mich freiwillig engagiert, um so viel wie möglich zu helfen und versucht, das Beste herauszuholen, um die langen Wochen im Haus zu ertragen. Aus Mitgefühl für die Schwächsten unserer Familie: die Kinder, Enkelkinder, Mutter und Schwiegereltern, die im Alter von 80 Jahre diese ernsten Ereignisse miterleben müssen und so viele Freunde gehen sehen.

Wir haben uns als Menschen nie nötiger gebraucht

Engagement und die Bereitschaft, sich zu bewegen, ist auch für Franka-Maria Andoh in Accra/Ghana ganz wichtig – besonders in diesem Jahr – um Barmherzigkeit wirklich erfahrbar werden zu lassen. Sie berichtet:

Kürzlich hat mir der Französischlehrer meiner Tochter eine Nachricht über WhatsApp gesendet. Es war eine Predigt eines nigerianischen Priesters, der interessanterweise Pater Blessing genannt wurde. Er benutzte zwei Wörter im nigerianischen Pidgin-Englisch, um mitfühlende Menschen zu beschreiben. Er nannte sie Leute mit „sorgenden Herzen“. Jemand mit „sorgendem Herz“, erklärte er, beendet die Dinge nicht mit Worten des Mitgefühls, sondern mit Taten. Es sind engagierte, handlungsorientierte Leute, die dafür sorgen, dass andere in der Not auch wirklich Hilfe bekommen.

Ich mochte seine Erklärung, genau zur rechten Zeit in einem Jahr, das die Leute so sehr herausfordert. Aber die Frage für mich ist, was wir angesichts der Herausforderungen gelernt haben.

Auf echtes Mitwirken kommt es an

Ich kann nur mit meinen Gedanken sprechen: Wir haben uns als Menschen nie nötiger gebraucht. Nicht nur für gesellschaftliche Zusammenkünfte, gemeinsame Vergnügungen oder Arbeit, sondern um mitfühlend, um barmherzig zu sein und uns umeinander zu kümmern. Wenn du ein „sorgendes Herz“ für andere hast, wirst du das tun, was beim Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung einfach erscheint: Du möchtest nicht nur dich selbst schützen, sondern auch andere. Wenn wir ein „sorgendes Herz“ haben, schaffen wir eine Welt, in der wir nicht vorbeigehen, wenn wir jemanden in Not sehen. Wir halten inne, um zu helfen und etwas zu bewirken.

Wir haben ein Sprichwort in Ghana, das besagt: „Was nützt es, in ein Haus zu kommen, wo ein krankes Kind liegt, und zu fragen, warum das Kind nicht in die Klinik gebracht worden ist.“ Es ist ein Sprichwort, das in der Gemeinschaft ein Empfinden für echtes Mitwirken fördert, statt nur zu beobachten und zu kommentieren.

Ich glaube, wir alle brauchen ein „sorgendes Herz“, um unsere schöne Welt mit Liebe, Freundlichkeit und Barmherzigkeit zu erfüllen. Ein „sorgendes Herz“, das sich nach vorn wendet, wird den Unterschied in unserem Leben ausmachen.

 

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Autorengruppe
Susanne ist im Bibliothekswesen tätig. Bei kohero schreibt sie eigene Texte, unterstützt als Schreibtandem und arbeitet im Lektorat. „Geschichten gehören zu meinem Leben: beim Entdecken und Zuhören, beim Lesen, Schreiben und Erzählen, auf Reisen, im Garten und am Meer, im Beruf, im Gespräch mit Menschen und auch hier bei kohero.“

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