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Brasilien: COVID19 und der brasilianische Geist

In unserer neuen Kolumne schreibt Leonardo De Araujo über seine Heimat, Brasilien. Heute nimmt er den Umgang seiner Landsleute mit der Pandemie in den Blick.

Brasilien: COVID19 und der brasilianische Geist

Auch wenn ich schon recht lang in Deutschland lebe, lese ich jeden Tag mehrere Zeitungen und Zeitschriften aus der alten Heimat. Ich erstaune immer wieder über die Lässigkeit und, warum nicht, Verantwortungslosigkeit, mit der sich weite Teile der brasilianischen Bevölkerung in diesen harten Zeiten der Pandemie im Alltag verhält.

Ein geselliges Volk

Trotz aller Appelle, Verbote und Gebote strömen die Menschen zu den Stränden und bilden die üblichen Gruppen: Fußballspieler, Sonnenanbeter etc., ohne Maske und Einhaltung des erforderlichen Abstands. Wir sind halt ein geselliges Volk. Auch in den bekannten Gegenden des Nachtlebens in meiner Heimatstadt, Rio de Janeiro, wiederholen sich die Bilder praktisch jeden Abend. Vor den Lokalen und Bierbars sind die Bürgersteige voll. Das Volk kommt in Scharen zusammen, als ob sie noch nicht irgendetwas über Covid-19 gehört hätten.

Proteste in Manaus

Vor wenien Tagen gingen Tausende von Bürgern in der Hauptstadt des Bundesstaats Amazonas, Manaus, auf die Straßen. Dort protestierten und randalierten sie, weil der Governeur die Schließung von Restaurants, Bars und Geschäften angekündigt hatte. Das war eine mehr als notwendige Maßnahme mit Blick auf die galoppierende Zahl der Neuerkrankungen und Todesfälle. Der Protest dauerte zwei Tage und danach wurden die Einschränkungen von der Landesregierung zurückgenommen.

Ignoranz

Das Leben läuft wie bisher und die Ignoranz hat ihre dümmste Seite zum Ausdruck gebracht. Mittlerweile sind etwa 7,8 Millionen Brasilianer infiziert und 197 Tausend in Folge einer Covid-19 Erkrankung gestorben. Dies sind die jüngste Zahlen des brasilianischen Gesundheitsministeriums. Auf die Frage eines Reporters, warum der brasilianische Staat noch keinen Impfstoff gekauft hat, antwortete Präsident Bolsonaro „ nem dou bola„,was auf Deutsch soviel bedeutet wie “ es interessiert mich nicht“. Nach massiver Kritik in den Medien, ruderte die Regierung zurück und kündigte den Beginn der Impfungen für Ende Januar oder Ende Februar 2021 an. Abwarten.

Nachdem ich schon recht lang in einem nordeuropäischen Land lebe, habe ich natürlich unterschiedliche deutsche Verhaltenszüge in meiner Persönlichkeit übernommen. Auch mein Blick auf Brasilien und die brasilianische Bevölkerung wurde kritischer, nicht nur im negativen Sinne. In bestimmten Situationen versuche ich, eine Erklärung für das unlogische Verhalten meines Heimatvolkes zu finden. Es kommt in allen Schichten und gesellschaftlichen Gruppen zum Vorschein, wie jetzt in Zeiten der Pandemie durch COVID-19. Gibt es vielleicht im brasilianischen Geist oder in der Mentalität eine Erklärung für den leichtsinnigen Umgang mit einer latenten gesundheitlichen Bedrohung?

Die brasilianische Mentalität

*Die FIFA hat einen Versuch unternommen, vor der WM in Brasilien einen Leitfaden über die brasilianische Mentalität für die vielen Besucher zusammen zu fassen. Nach heftigen Reaktionen auf diese Liste, beschloss die FIFA, sie von ihrer Website zu entfernen. Das beweist wieder einmal, dass in interkulturellen Fragen Empfindlichkeiten und Wahrnehmungen verschieden aufgenommen werden.

Ein Blick auf den Erklärungsversuch der FIFA lohnt sich trotzdem. Brasilianer haben kein Handbuch. Aus vielen geographischen, historischen, kulturellen und religiösen Gründen gibt es keinen allgemeinen Menschenverstand, eher eine „individuelle“ Art von gesundem Menschenverstand. Eine der üblichen Antworten, die man oft auf Fragen bekommt ist „depende“, das bedeutet so viel wie „es kommt darauf an“, „wahrscheinlich“, „je nachdem“. Brasilianer wenden die verschiedensten, mitunter widersprüchlisten Lösungen in ähnlichen Situationen an. Der Erfolg vieler Maßnahmen, die von Regierenden unternommen werden, hängt auch von der Chemie zwischen Ihnen und ihrem ab.*

Blick zurück in die Heimat

Das ist, meiner Meinung nach, einer der Gründe, warum so viele Millionen Menschen in Brasilien ihre eigene kleine Lösung für ein bestehendes Problem finden. Dabei achten sie nicht auf die gemeinschaftlichen Bedürfnisse oder Notwendigkeiten. Als ob wir ein Volk von lauter Individualisten wären. Es ist ein Verhalten, das in anderen kulturellen und sozialen Bereichen durchaus positive Früchte tragen kann. Aber nicht, wenn ein ganzes Land vor einem erdrückenden Problem steht.

So blicke ich heute auf die alte Heimat zurück. Und während ich diesen Text schreibe, berichten viele namhafte Zeitungen und Zeitschriften über die kollabierende Lage im Bundesstaat Amazonas, genauer gesagt in seiner Hauptstadt Manaus. Die furchtbaren Bilder von überfüllten Friedhöfen und Krankenhäusern sind nach neun Monaten wieder da. Vielleicht wird die Bevölkerung jetzt akzeptieren, dass gemeinsame Richtlinien und Maßnahmen erforderlich sind, um ein gemeinsames Problem zu bekämpfen. Vielleicht wird der Einzelne jetzt verstehen, dass das beliebte Wort „depende“ keinen Platz mehr hat.

* Auszug aus dem Text von Vivian Manasse Leite, erschienen auf der Webseite von ti communication.

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Kategorie & Format
Autorengruppe
Leonardo De Araujo
Leonardo De Araujo, geboren in Rio de Janeiro, Brasilien lebt seit etwas mehr als 30 Jahren in Deutschland, vorwiegend in Hamburg. Nach einigen Berufsjahren in Werbeagenturen hat er 35 Jahre in der Fernsehproduktion gearbeitet. Nebenbei hat er sich auch als Drehbuchautor und Fotograf beschäftigt – und für das Flüchtling-Magazin, heute kohero, geschrieben.

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